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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0052
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Überblickskommentar 37

eine Tugend zu glauben gelernt hat" (45, 28-46, 9). Zu der problematischen
Berufung auf Hesiod vgl. NK 45, 28-46, 2.
Zum Zweck der Moralkritik versucht N. immer wieder die Annahme histo-
risch zu widerlegen, moralischen Wertungen und damit der Moral überhaupt
komme der Status verbindlicher, weil ewiger Wahrheiten zu. Schon in Mensch-
liches, Allzumenschliches (MA I 2) hatte er den Philosophen im Hinblick auf
ihren Wahrheitsanspruch eine historisierende Methode und eine entsprechen-
de Selbstrelativierung empfohlen: „Alles aber ist geworden; es gibt keine
ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Dem-
nach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm
die Tugend der Bescheidung" (KSA 2, 25, 11-15). Während N. andere Subversio-
nen der Moral oft eher in einem bloß relativierenden oder einschränkenden,
anzweifelnden Sinn formuliert, etwa die zu seiner Zeit beliebte physiologische
und psychologische Reduktion scheinbar genuin moralischer Verhaltenswei-
sen, sieht er in der historischen Methode die einzige wirklich durchschlagende.
So steht Μ 95 unter dem Leitsatz: „Die historische Widerlegung als
die endgültige" (86, 23 f.). Indirekt zielt N. damit auf die vermeintlich me-
taphysische Verankerung der Moral, indem er die Basis der Gottesbeweise
nicht mit atheistischen Argumenten, sondern historisch erschüttert: „Ehemals
suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, - heute zeigt man, wie der
Glaube, dass es einen Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser
Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegen-
beweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig" (86, 24-28). Die historisierende
Untergrabung des ehemals Geglaubten, die N. in vielen religionskritischen
Schriften des 19. Jahrhunderts vorfand, führte zu seinem Diktum „Gott ist todt"
(FW 125). Das will sagen: Der Glaube an ihn hat sich nicht nur als Form zurück-
gebliebenen Bewusstseins (wie in der Geschichte vom alten Einsiedler am An-
fang des Zarathustra), sondern auch wissenschaftlich aufgrund einer histori-
sierenden Analyse religiöser Vorstellungen erledigt. Auf analoge Weise, durch
historische Rückführung auf die Entstehungsbedingungen, entzieht er der Mo-
ral den nur scheinbar festen Boden. Dies ist der Ansatz, von dem aus er später
seine Schrift Zur Genealogie der Moral konzipiert.
Vieles, was schon im ersten Buch der Morgenröthe steht, geht auf Anregun-
gen zurück, die N. aus den Schriften seines Freundes Paul Ree und aus den
intensiven Gesprächen mit ihm empfing. Zahlreiche Briefe N.s bezeugen, wie
eng die Freundschaft, wie häufig ihr Zusammensein und wie fruchtbar der da-
mit verbundene geistige Austausch über Jahre hinweg war. N. war sehr beein-
druckt von den Aphorismen, die Ree nach dem Vorbild der französischen Mora-
listen schrieb. Schon 1875 hatte Ree anonym unter dem Titel Psychologische
Beobachtungen solche Aphorismen veröffentlicht (vgl. N.s Brief an Erwin Roh-
 
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