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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0059
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44 Morgenröthe

Abgesehen von derlei Durchblicken, die mit N.s wiederholten Plädoyers
für die Beibehaltung der Sklaverei konvergieren (vgl. NK Μ 132), verstrickt er
sich in eine problematische Argumentation, indem er behauptet, die morali-
schen Vorschriften bezögen sich auf das Glück des Einzelnen, um dies dann
gerade zu bestreiten. Zwar beziehen sich moralische Vorschriften oft auf den
Einzelnen, aber keineswegs auf sein individuelles „Glück". Nichts zeigt dies
deutlicher als die präskriptiven und apodiktischen Gebote und Verbote des De-
kalogs. Doch dürfte N. vor allem an Platons Verbindung von „Tugend" und
„Glück" (εύδαιμονία) gedacht haben. Die Aussage „das individuelle Glück
quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen" lehnt sich zwar an eine
große Tradition des Individualitätsdenkens an, die von Heraklits Spruch: „Die
eigene Art ist dem Menschen ein Daimon" (ήθος άνθρώπω δαίμων) bis hin zur
ersten Strophe von Goethes Urworten. Orphisch reicht. Goethes Ausspruch „In-
dividuum est ineffabile" (Brief an Lavater vom 20. 9. 1780), zitiert N. in einem
Nachlass-Notat. Aber in dieser Tradition geht es nicht um das Glück des Indivi-
duums, sondern ausschließlich um das schicksalhafte „Gesetz", das als be-
stimmender ,Daimon' im Menschen wirkt. N. lässt noch diese Dämonisierung
des Individuellen erkennen, aber die Übertragung auf das menschliche
„Glück" ist seine - auf einer historisch unhaltbaren Behauptung beruhende -
Zutat, die er nur lanciert, um sie zurückweisen zu können.
Mit der Absolutsetzung des Individuellen, die an Max Stirner (Der Einzige
und sein Eigentum, 1845) erinnert, gegenüber einer mit Allgemeingültigkeitsan-
spruch versehenen ,Moral' verfolgt N. die Absicht, eine derartige Moral in Fra-
ge zu stellen. Er entwickelt ein potentiell anarchistisches Konzept, obwohl er,
vor allem in den Spätschriften, den zeitgenössischen Anarchismus attackiert.
Die Stoßrichtung der französischen Moralisten kehrt er geradezu um, indem er
von ihnen zwar immer wieder die Strategie übernimmt, überall nur egoistische
Motive aufzuspüren, aber diese mit einer entgegengesetzten Wertung versieht.
Von La Rochefoucauld distanziert er sich schon in einem nachgelassenen Notat
aus früherer Zeit (NL 1876/77, 23[152], KSA 8, 459). N. geht es nicht mehr bloß
darum, das moralische Verhalten des Individuums zu demaskieren und pessi-
mistisch als gerade nicht tugendhaft abzuwerten, weil es der gesellschaftlich
verbindlichen Moral allenfalls zum Schein entspricht; vielmehr will er über-
haupt das Individuum gegenüber einer lediglich auf „Vorurteilen" beruhenden
gesellschaftlichen Moral aufwerten.
Aus dieser Opposition von Individuum und Gesellschaft ergeben sich meh-
rere Ausdifferenzierungen. Μ 112 und M 113 verdienen in diesem Zusammen-
hang besonderes Interesse, weil sie das Theorem des „Willens zur Macht" vor-
bereiten, das tatsächlich schon im Nachlass aus dieser Zeit formuliert wird
(7[206], KSA 9, 360, 13 f.; 9[14], KSA 9, 412, 26). Sie thematisieren intensiv das
 
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