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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0062
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Überblickskommentar 47

antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt übli-
chen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens für Andere; man wür-
de sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen,
denn sie haben sich mit allen Kräften für ihr ego und gegen die Mitempfin-
dung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen)
gewehrt" (122, 24-32). Zur Unhaltbarkeit der Berufung auf Epiktet vgl. NK M
131.
Mit dieser Reflexion auf die geschichtliche Wandelbarkeit moralischer Vor-
stellungen, die sich gegen überzeitliche, normative Moral-Begriffe richtet, op-
poniert N. gegen Schopenhauers (und indirekt gegen Rousseaus) Begründung
der Moral durch eine unabhängig von allem Geschichtlichen, weil rein natur-
haft und elementar wirkende Empfindung: durch das Mitleid. Ferner richtet er
sich damit gegen das seiner Meinung nach ähnlich begründete christliche Ge-
bot der Nächstenliebe und den von diesem säkularisierend abgeleiteten „Cul-
tus der Menschenliebe" (M 132; 123, 23) bei den Aufklärern. In der nun folgen-
den Kapitelsequenz, die dem schon analysierten Angriff auf die Mitleidsmoral
gilt, geht N. von der Hinterfragung des moralfähigen und deshalb moralisch
verantwortlichen Subjekts, also von einem eher prinzipiellen Zweifel, zu der
seines Erachtens für die Begründung von Moral mächtigeren Sphäre des Ge-
fühls über. Dieser Duktus in der Aufeinanderfolge der Texte lässt sich als eine
Steigerung verstehen, insofern die emotionale Verankerung von Moral stärker
ist und tiefer reicht als alles andere, auch wenn es sich nur um internalisierte
Normen handelt.
Drittes Buch
Obwohl auch dieses Buch der Morgenröthe einige ,Gedanken über die morali-
schen Vorurteile' formuliert, ist es, wie dann auch das vierte und das fünfte
Buch, weit weniger auf die Vorurteilskritik konzentriert als die ersten beiden
Bücher. Wie in mehreren anderen Schriften N.s zerfällt es nach einem am An-
fang noch relativ konsistenten gedanklichen Duktus in heterogene, vom über-
geordneten Thema, welches der Untertitel ankündigt, nicht mehr zusammen-
gehaltene Reflexionen. Schon in der überlieferten Moralistik ist eine themati-
sche Ausrichtung nicht zwingend, allerdings wird diese auch nicht, wie von
N., durch einen Untertitel angekündigt. Weitgehend handelt es sich um Samm-
lungen, die Verschiedenstes aus dem Gesamt-Bereich der geistig-sittlichen
Welt, der „mores", locker aneinanderreihen. Hier wirkt auch die noch bis weit
ins 18. Jahrhundert hinein geltende ältere Bedeutung des Begriffs ,moralisch'
herein, der oft nur durch den Gegenbegriff ,physikalisch' seine Kontur erhält.
Sie beschränkt sich nicht, wie die spätere verengte Bedeutung dieses Begriffs,
 
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