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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0063
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48 Morgenröthe

auf das von den Oppositionen Gut und Böse, Tugend und Laster umgriffene
Spektrum von Verhaltensweisen, Motiven, Intentionen und Handlungen, son-
dern umfasst nahezu alles, was in irgendeiner Hinsicht anthropologisch rele-
vant ist. Noch in seiner ersten Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzu-
menschliches entspricht N. mehr dieser Tradition, während er in der Morgenrö-
the zunächst auf die ,Moral' im engeren Sinne zielt, indem er die moralischen
Werturteile Gut und Böse als bloße Vorurteile zu entlarven sucht und insbeson-
dere die christlichen Moralvorstellungen aufs Korn nimmt, um sie dann aller-
dings nicht nur historisch und psychologisch aufzulösen, sondern auch in
ganz andere Horizonte zu überführen.
Auf diese Weise greift N. im dritten Buch in verschiedenste, nur selten the-
matisch den „moralischen Vorurteilen" entsprechende Bereiche aus. Mehrere
Aphorismen gelten dem Thema Bildung und Erziehung (Μ 190, Μ 195), zu dem
N. aufgrund seiner eigenen früheren Tätigkeit als Professor der Universität und
als Lehrer am Pädagogium in Basel besondere Affinität hatte und dem er seine
fünf Basler Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten gewidmet hat-
te (KSA 1, 641-752). Das autoritäre Ideal, das in dieser frühen Zeit N.s Bildungs-
vorstellung prägte und noch lange nachwirkte, hatte er dort in der Schlusspar-
tie des fünften Vortrags formuliert:
„Denn ich wiederhole es, meine Freunde! - alle Bildung fängt mit dem
Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit
dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit.
Und wie die großen Führer der Geführten bedürfen, so bedürfen die zu Führen-
den der Führer" (KSA 1, 750, 18-23).
Anders als die ,jetzige' „akademische Freiheit" weiß N. in M 190 die „ehe-
malige deutsche Bildung" durchaus zu schätzen - sie ist für ihn eine
Bildung, welche die Deutschen „jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem
blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei:
und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politi-
schen und nationalen Wahnsinn" (162, 31-163, 5). In eklatantem Widerspruch
zu der Hochschätzung der einstigen „Bildung", welche die Deutschen „jetzt
nicht mehr besitzen", steht im gleichen Text die Attacke auf eine ganze Reihe
von Hauptvertretern dieser einstigen deutschen Bildung, weil sie sich einem
abgehobenen Idealismus hingaben, einer moralisierenden Tendenz huldigten
und sich einem gräzisierenden Ästhetizismus verschrieben:
„Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schlei-
ermacher, Hegel, Schelling um [...]: was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt
sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth? Einmal
die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen; sodann das Ver-
langen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf
 
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