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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0065
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50 Morgenröthe

und unter dem Einfluss von Wagners antifranzösischen Ressentiments stand,
wertet N. nun die französische Kultur gegenüber der blassen und im theoreti-
schen Wissen steckenbleibenden deutschen „Bildung" entschieden auf und
zwar unter dem Gesichtspunkt lebendig formierender und sich daher in Per-
sönlichkeiten ausgestaltender Kraft (Μ 192). Die gleiche Opposition von deut-
scher und französischer Kultur versucht N. auf die Opposition von Esprit und
Moral zu beziehen (Μ 193): „Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss
versteht, mit Geist, Wissen und Gemüth langweilig zu sein [...] hat vor dem
französischen esprit die Angst, er möchte der Moral die Augen ausstechen"
(166, 26-30). Ihren stärksten Ausdruck findet die Entgegensetzung von deut-
scher und französischer Kultur in M 197, einem der zentralen Texte der Morgen-
röthe. Schon in der vorausgehenden Aphorismen-Sammlung Menschliches, All-
zumenschliches hatte N. mit der Widmung an Voltaire zu dessen 100. Todestag
die Abwendung von seinem früheren spätromantischen und deutschtümeln-
den Wagnerkult und seine Hinwendung zu einer antiromantischen Tendenz in
ihrer schärfsten Ausprägung signalisiert: als die Hinwendung zur Aufklärung,
die im Frankreich des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht hatte. Schon
am 6. 12. 1876 berichtete er Franz Overbeck aus Sorrent: „Wir haben viel Voltai-
re gelesen: jetzt ist Mainländer an der Reihe" (KSB 5/KGB II/5, Nr. 573), und an
Heinrich Köselitz meldete er am 31. 5. 1878 eine wohl von dem Freund Paul
Ree stammende „anonyme Sendung aus Paris, die Büste Voltaire's, mit einer
Karte, auf der sich nur die Worte befanden ,1'äme de Voltaire fait ses compli-
ments ä Frederic Nietzsche"' (KSB 5/KGB II/5, Nr. 723). Dagegen sieht er die
deutsche Romantik, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
entfaltet hatte und allmählich in restaurative und reaktionäre Tendenzen über-
gegangen war, als einen Rückschlag, der von der „Feindschaft der Deut-
schen gegen die Aufklärung" (171, 7 f.) bestimmt gewesen sei. Erstens
nimmt er die Philosophen des deutschen Idealismus aufs Korn, die „auf die
erste und älteste Stufe der Speculation zurückgegangen" seien, „denn sie fan-
den in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träu-
merischer Zeitalter, - eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde
durch sie wieder lebendig gemacht" (171, 11-15). Zweitens bescheinigt er den
deutschen „Historikern und Romantikern" eine regressive Grundtendenz: „ihre
allgemeine Bemühung gieng dahin, ältere, primitive Empfindungen und na-
mentlich das Christenthum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mit-
telalterlichkeit, die orientalische Asketik, das Inderthum zu Ehren zu bringen"
(171, 16-20).
Das alles ist kaum mehr als eine kurzgefasste Reprise der Diagnose, die
Heinrich Heine in seinen Schriften Die romantische Schule und Geschichte der
Religion und Philosophie in Deutschland formuliert hatte. N. kannte sie ebenso
 
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