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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0067
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52 Morgenröthe

resultierende Erosion der Religion wahrgenommen; er kannte Feuerbachs radi-
kal-aufklärerische ,anthropologische' Reduktion des Christentums; er rezipier-
te den von Auguste Comte initiierten antimetaphysischen Positivismus; die
Entzauberung des traditionellen Menschenbildes durch Darwins biologische
Evolutionstheorie; das materialistische Weltverständnis, dem er in der von ihm
hochgeschätzten Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange be-
gegnet war. All dies und nicht zuletzt die Veränderungen, die durch die Fort-
schritte der modernen Naturwissenschaften den säkularisierenden, entideali-
sierenden Bewusstseinswandel beschleunigten, konnte er als moderne ,Aufklä-
rung' verstehen, die seinem aus der alten Aufklärung stammenden Leitbild des
Freigeists neue Spielräume eröffnete.
Neben den schon charakterisierten Texten des 3. Buches breitet N. ein bun-
tes Allerlei aus: Er lässt sich über die Vornehmheit und den Adel aus, über
die „Pflege der Gesundheit", die „schlechte Diät", die europäischen Juden, die
Chinesen, die Arbeiterfrage usw., so dass kaum noch ein übergreifendes Er-
kenntnisinteresse wahrzunehmen ist. Eine Ansammlung disparater und ohne
aphoristischen Schliff bleibender Einfälle vermittelt den Eindruck des Beliebi-
gen und Verschwommenen. Diese Entkonturierung, die sich zudem in der Ten-
denz zu Ausuferungen und Abschweifungen zeigt, versucht N., ähnlich wie in
anderen Schriften, abschließend dadurch aufzufangen, dass er im letzten Text
des 3. Buchs noch einmal auf den Leitgedanken zurückkommt: hier auf das
Thema der Moral, das er mit der schon vorher gelegentlich intonierten Kritik
an den Deutschen engführt. Programmatisch exponiert er das „Verhalten
der Deutschen zur Moral" (185, 31), um es auf den Generalnenner des
Gehorsams und der Lust am Gehorchen zu bringen. Dagegen empfiehlt er et-
was „Neues", „nämlich befehlen" (188, 32). Ein entsprechend weitgefasster Be-
griff von „Moral" verrät die Klischees und Stereotypisierungen, die der im
19. Jahrhundert in Europa sich ausbreitende Nationalismus sowie das damit
verbundene Interesse an nationalen Eigenheiten, Abgrenzungen und Entge-
gensetzungen mit sich brachten. Nationale Stereotypen waren schon im
18. Jahrhundert beliebt; schärfer noch hatten sie sich während der auf Napole-
ons Eroberungskriege folgenden Befreiungskriege ausgeprägt, und schließlich
wucherten sie nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 aus. Nicht
zuletzt zeugen solche Stereotypisierungen und N.s Vorliebe für den ,Kollektiv-
singular' (der Grieche, der Deutsche) von der Lust an kollektiven ,moralischen'
Vorurteilen, obwohl N. gerade diesen im Untertitel seiner Morgenröthe doch
den Kampf ansagt und gelegentlich sogar vom „nationalen Wahnsinn" spricht.
Indem N. seine abschließenden Ausführungen zu diesem „Buch" mit vor-
wiegend negativen Auslassungen zum deutschen Gelehrtenwesen anreichert,
liefert er nicht nur einen Nachklang zu der Gelehrtenschelte, die er in der drit-
 
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