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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0069
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54 Morgenröthe

Am meisten fällt die Verschiebung des Moralbegriffs auf. Die „Gedanken
über die moralischen Vorurtheile" richten sich in den ersten Büchern der Mor-
genröthe entschieden aufklärerisch, wenn auch ohne die positiven Ideale der
Aufklärung - Toleranz, Vernunft, Menschenrechte - gegen das Christentum
und die christliche „Moral" im engeren Sinne; nun verwendet N. den Begriff
der „Moralität" auch in der weiteren Bedeutung von „Gesinnung", „Einstel-
lung", „Haltung", um solche Moralität immer wieder naturalistisch auf Physio-
logisches zurückzuführen. So behauptet er in M 272: „Gekreuzte Rassen sind
stets zugleich auch gekreuzte Culturen, gekreuzte Moralitäten" (213, 26 f.), und
in Μ 368 setzt er eine „Moralität der zunehmenden Nervenkraft" einer „Morali-
tät der abnehmenden Nervenkraft" entgegen (243, 27-29). Derartige Reduktio-
nen bahnen sich bereits im 18. Jahrhundert an, als man vielfach die bis dahin
übliche Trennung der „moralischen" und der „physikalischen" Sphäre in Frage
stellte und nach Analogien oder sogar Kausalzusammenhängen zwischen die-
sen beiden Bereichen suchte. Damit wurden die Eigenwertigkeit und die bisher
metaphysisch verbürgte Dignität des geistig-sittlichen Bezirks aufgehoben. Die
Moral schien partiell schon zugunsten eines „physiologischen" Erklärungs-
musters suspendiert. Der französische Sensualist und Materialist Pierre-Jean-
Georges Cabanis (1757-1808) hatte ein für diese Tendenz charakteristisches
Werk veröffentlicht: Des Rapports du physique et du moral de l'homme; Scho-
penhauer weist auf dieses Buch, an dem er sich orientierte, in den Aphorismen
zur Lebensweisheit (PP I, Schopenhauer 1874, Bd. 5, 472) hin, und bemerkt zum
Voraus: „Man soll sich gewöhnen, seine Geisteskräfte durchaus als physiologi-
sche Funktionen zu betrachten". Die große Bedeutung, die dem Werk von Ca-
banis zukam und es geradezu zu einem Schlüsselwerk des aufklärerischen
Physiologismus und Materialismus in Europa bis zu N.s Zeit machte, konnte N.
dem für seine persönliche Bibliothek erworbenen Werk von Hermann Hettner
entnehmen: Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert
(1860). Darin heißt es über das zuerst 1798-99 in den ,Memoires de l'Institut'
und dann 1802 als selbständiges Buch erschienene Buch: „Dieses Werk wurde
sogleich fast in alle europäischen Sprachen übersetzt [...] bis in die neueste
Zeit herab [sind] trotz der gewaltigen Fortschritte der Physiologie immer wieder
neue Auflagen notwendig geworden [...] Aus dieser Beobachtung des lebendi-
gen Menschen sucht Cabanis zu beweisen, daß Körper und Geist nicht nur in
innigster Wechselwirkung stehen, sondern unbedingt ein und dasselbe sind.
,Die Entwicklung der Körperorgane und die Entwicklung der Empfindungen
und Leidenschaften', sagt Cabanis in der ersten einleitenden Abhandlung,
,entsprechen einander so genau und vollständig, daß Körperlehre, Erkenntniß-
lehre und Sittenlehre nur die drei verschiedenen Zweige der in sich einen und
selben Wissenschaft, der einheitlichen allgemeinen Menschenlehre, sind. ,La
 
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