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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0075
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60 Morgenröthe

sich dem zeitgenössischen Renaissance-Kult an (vgl. hierzu auch NL 1880,
7[88], KSA 9, 335; später: AC 61, KSA 6, 250-252, sowie EH, KSA 6, 359, 18-25).
Jacob Burckhardt, der mit N. distanziert befreundete und ihn anregende Basler
Kollege, beförderte diesen Renaissance-Kult in seinem Werk Die Cultur der Re-
naissance in Italien gerade unter dem Aspekt der ausgeprägten Individualität.
Antizipiert hatte ihn schon Stendhal, angeödet vom französischen juste milieu
der Bourbonischen Restauration, in seinen Chroniques italiennes. N. versucht
für die angebliche Unfähigkeit der Deutschen zur Passion seine einstige Leitfi-
gur Schopenhauer zu paradigmatisieren: „Schopenhauer begriff nicht die
Passion, sondern nur den allgemeinen [d. h.: nicht individuell erfahrenen]
Geschlechtstrieb und dessen Schrullen (aber die Passion ist die Leistung des
Individuums, unter Italiänern folglich häufig, unter Deutschen schwach). In
der Liebe ist der Deutsche gemein" (NL 1880, 7[35], KSA 9, 325). Charakteris-
tisch für N.s oftmals problematische, gelegentlich sogar denunziatorische Ver-
allgemeinerungs- und Stereotypisierungsstrategie, wie sie sich auch in der
Wahl des ,Kollektivsingulars' ausdrückt, ist der Rückschluss zuerst von Scho-
penhauer auf die „Deutschen", dann vom „allgemeinen" Geschlechtstrieb auf
die „gemeine" Liebe „des" Deutschen.
Wenn N. von der „Leidenschaft der Erkenntniss" spricht, dann in einem
durchaus ambivalenten Sinn. Zwar verankert er die Erkenntnis nicht im Be-
reich des Erkennens und des Erkannten selbst, sondern in der unhintergehba-
ren Subjektivität des Erkennenden, dem die Jagd nach Erkenntnissen ein trieb-
artiges Bedürfnis ist; zugleich aber stellt er damit die Orientierung auf eine
mehr als bloß subjektive „Wahrheit" zur Debatte. Hier liegt auch der Ansatz-
punkt für eine Anzahl von Texten, in denen er auf je unterschiedliche Weise
Erkenntniskritik übt, und dies auf mehrfache Weise: als Subversion des Er-
kannten wie als Reflexion auf die relativierenden Bedingungen, denen der Er-
kennende nicht zu entrinnen vermag. Denn der Erkennende formiere (oder de-
formiere) seine Erkenntnisse nur von einem bestimmten Standpunkt aus, also
perspektivisch, und nur in einem beschränkten Horizont, z. B. nur innerhalb
der ihm von seiner sinnenhaften Konstitution her gesetzten Grenzen. In M 117
heißt es unter der Überschrift „Im Gefängniss": „Mein Auge, wie stark
oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe
und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Ver-
hängniss, dem ich nicht entlaufen kann" (110, 2-5).
Die Gefängnismetapher hat ihre - N. bekannte (vgl. KSA 6, 287) - Vorge-
schichte in Francis Bacons „Idola Specus", in den Vorurteilen der „Höhle",
mit der die individuelle Beschaffenheit des bereits durch seine Sinnesorgane
befangenen Geistes gemeint ist. N. führt diese Metaphorik alsbald emphatisch
verstärkend fort: „Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmau-
ern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, messen wir nun die Welt, wir
 
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