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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0078
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Überblickskommentar 63

von „Philosophen der Zukunft" ein, mit der er vor allem sich selbst meint. In
Jenseits von Gut und Böse (Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral,
JGB 203) imaginiert er die „neuen Philosophen", die in diese Zukunft füh-
ren sollen, und diese Zukunft ist als „Zukunft des Menschen" nach dem „Wil-
len" dieser Art von Philosophen zu bestimmen. Sie haben „Versuche von Zucht
und Züchtung vorzubereiten". Diese „neue Art von Philosophen und Befehls-
habern", die kaum noch von Diktatoren zu unterscheiden sind, begeistert ihn
so sehr, dass er ausruft: „Das Bild solcher Führer ist es, das vor unsern
Augen schwebt" (KSA 5, 126, 10-27). In JGB 207 attackiert er die auf Objektivität
bedachten Wissenschaftler, um gegen sie solche angeblichen „Philosophen"
mit folgender Definition abzugrenzen: „Wenn man ihn [den auf Objektivität
verpflichteten Wissenschaftler] so lange mit dem Philosophen verwechselt
hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur: so hat man
ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen , -
er ist ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des
Sklaven, an sich aber Nichts" (KSA 5, 136, 19-24).
Die Zukunftsaufgabe des Dichtens entwirft N. nach dem alten Muster des
Seher-Dichters, des poeta vates, und er erhebt sich dabei selbst zu einem poe-
tisch inspirierten Ton: „Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie
einstmals gewesen sein sollen: - Seher, die uns etwas von dem Möglichen
erzählen! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus
den Händen genommen wird und werden muss, - denn die Zeit der harmlosen
Falschmünzerei ist zu Ende! Wollten sie uns von den zukünftigen Tugen-
den etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf Erden
sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten, - von purpurn-
glühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen! Wo seid ihr,
ihr Astronomen des Ideals?" (321, 28-322, 6) Das Möglichkeitsdenken, das Den-
ken von dem, was sein könnte, hat eine lange europäische Vorgeschichte. Im
historischen Vergleich erinnert N.s poetologisches Ideal des zukünftig „Mögli-
chen" am ehesten an Fichtes radikale Subjektivierung, die alles Mögliche aus
dem Bewusstsein des Ichs dynamisch hervorgehen lässt. Es resultiert aus ei-
nem Wunschdenken, das seine Energie aus dem Rückstoß einer als schlecht
oder ungenügend empfundenen Wirklichkeit gewinnt, einer Wirklichkeit, die
von dem einstigen poetischen und philosophischen Kompetenzbereich (wie N.
sagt) in andere „Hände" übergegangen ist: in die Zuständigkeit der Naturwis-
senschaften, und, sofern es sich um das „Vergangene" handelt, der Geschichts-
wissenschaft. Dieses Wunschdenken verwandelt sich in eine utopische, weil
die gewünschte Realisierung bereits als illusorisch reflektierende Vorstellung.
N. beschwört „Tugenden", „die nie auf Erden sein werden" und deshalb in die
kosmische Ferne von „Sternbildern" und „Milchstrassen des Schönen" ent-
 
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