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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0079
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64 Morgenröthe

schwinden. Der Duktus ist der einer pathosgeladenen Klimax: Vom Möglichen
geht N. zum Unmöglichen über. Während Utopien in der philosophischen und
literarischen Tradition vorwiegend als Staatsutopien entworfen wurden, die
eine ideale staatliche Ordnung als Gegenbild zur unbefriedigenden Realität
imaginieren und insofern ein zugleich kritisches und provokatives Potential
entwickeln, spricht N. vage von „Tugenden". Nach seinem radikal aufkläreri-
schen, freigeisterischen Vorsatz, die moralischen Vorurteile zu entlarven, mit-
hin gerade die „Tugenden" als Inbegriff der Moral zu unterminieren, klingt dies
gewollt paradox.
Die Paradoxie fordert zu einer Neukonzeption dessen heraus, was man bis-
her als „Tugend" und „Moral" verstand; aber N. inszeniert damit nur eine Leer-
stelle, deren Füllung er auf eine ebenso leer bleibende Zukunft verschiebt.
Nicht minder paradox mutet die Rede vom „Ideal" an, nachdem N.s Radikal-
Aufklärung doch gerade alle Ideale, ja das idealistische Denken grundsätzlich
ad absurdum führen sollte. Er spitzt die Paradoxie noch zu, indem er nach
„Astronomen des Ideals" fragt, nach einer Messung des sich ins Unermeßliche
Entziehenden. N. nimmt damit teil an einer paradoxalen Modernität. Sie kulmi-
niert in einer „leeren Idealität", in der sich das Denken und Dichten trotz eines
antiidealistischen, oft sogar forciert naturalistischen Gestus doch nicht aus
dem Bann eines - immer schon melancholisch subvertierten - Bedürfnisses
nach Idealen zu lösen vermag. Dies ist auch ein Grundzug etwa von Baude-
laires ,Spleen'-Sonetten in den Fleurs du mal. Bereits in der vorausgehenden
Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches hatte N. mit der Vor-
stellung von „religiösen Nachwehen" diese von neuromantischen Anwandlun-
gen tangierte psychische Befindlichkeit reflektiert. Im abschließenden Text der
Morgenröthe: „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes" (331, 5) transpo-
niert er die leere Idealität in eine leere Unendlichkeit. Bereits die Romantik
hatte sie mit der Imagination eines utopisch-fernen Indien beschworen. Inspi-
riert durch den Schlussvers von Giacomo Leopardis Gedicht L'infinito (am 27. 12.
1878 schrieb N. an Mutter und Schwester: „Baumgartn<ers> schenkten mir ,Leo-
pardi übersetzt von Heyse'"; KSB 5/KGB II/5, Nr. 786) lautet N.s eigener Schluss
in diesem letzten Text, der an die Entdeckungsfahrt des Kolumbus erinnert:
„Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen
steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, - dass aber unser Loos
war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? -" (331,
27-31)
 
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