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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0081
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66 Morgenröthe

Orientierung war Schopenhauer. Er hatte in seinem 1819 erschienenen Haupt-
werk Die Welt als Wille und Vorstellung Grundpositionen des Veda und des spä-
teren Buddhismus adaptiert. Nachdem N. schon in seinem Erstlingswerk Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik die Schopenhauer-Bezüge mit
Hinweisen auf Buddhistisches verbunden hatte, studierte er später mehrere
Werke zum Buddhismus. Vor diesem Hintergrund sind Peter Gasts Rigveda-
Zitat und die Übernahme durch N. zu verstehen.
Dass N. im Brief an Gast vom 9. 2. 1881 (KSB 6/KGB III/1, Nr. 80) im Hin-
blick auf dessen Rigveda-Notiz, die schließlich zur Wahl des Titels Morgenröthe
führte, den „Hymnus an Varuna" nennt, geht wahrscheinlich auf ein Zitat aus
den religionsgeschichtlichen Essays des bedeutenden Religionshistorikers
[Friedrich] Max Müller zurück, das Adolf Kaegi anführt: Der Rigveda, die älteste
Literatur der Inder (1881). In dem drei Jahre später erschienenen Werk Max
Müllers: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung. Vorlesungen gehalten
an der Universität Cambridge (1884), lautet der einschlägige Passus mit der
Übersetzung des Rigveda-Verses: „Noch sind viele Morgenröten nicht aufge-
gangen; verleihe uns, in ihnen zu leben, o Varuna!" (Müller 1884, 169). Hierzu
EH, KSA 6, 330, 3-5 sowie den Kommentar.
Nach Vollendung des Manuskripts, das er bereits an Köselitz (Peter Gast)
zur Abschrift zwecks Herstellung einer deutlich lesbaren Druckvorlage ge-
schickt hatte, teilte N. seinem Helfer folgende Überlegung im Hinblick auf die
Wahl des Titels mit: „Titel! Der zweite [nach dem zuerst erwogenen: ,Die Pflug-
schar'] ,E<ine> Morgenr<öthe>' ist um einen Grad zu schwärmerisch, orientalisch
und weniger guten Geschmacks: aber das wird durch den Vortheil aufge-
wogen, daß man eine freudigere Stimmung im Buche voraussetzt als
beim andern Titel, man liest in anderem Zustande; es kommt dem Buche zu
statten, welches, ohne das Bischen Aussicht auf den Morgen, doch gar zu
düster wäre!" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 83)
Stärker als das Rigveda-Zitat, das lediglich eine Affinität zur aufkläreri-
schen Licht-Metaphorik erkennen lässt, deutet der Untertitel Gedanken über
die moralischen Vorurtheile auf ein zentrales Thema der Aufklärung hin. Er hat
programmatische Bedeutung. Schon Christian Thomasius, eine Leitfigur der
deutschen Frühaufklärung, hatte eine Schrift mit dem Titel verfasst: De Praeiu-
diciis oder von den Vorurteilen (1689), und durch das ganze 18. Jahrhundert atta-
ckierten zahlreiche Schriften der europäischen Aufklärung die „Vorurtheile", vor
allem diejenigen, die von bisher unhinterfragten religiösen und staatlichen Au-
toritäten und den von diesen geschaffenen Normensystemen ausgingen. Vgl.
den Überblickskommentar S. 19-22. Die Begriffe ,Moral' und ,moralisch' hatten
im 18. Jahrhundert allerdings noch einen weiteren Bedeutungsumfang als spä-
ter. Sie konnten das ganze Spektrum des geistig-sittlichen Lebens abdecken.
 
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