68 Morgenröthe
ergibt sich die Schwierigkeit des Untergrabens und insbesondere die Notwen-
digkeit, sie psychologisch zu analysieren und zu paralysieren.
Wenn N. gleich am Anfang hervorhebt, dass er bei seiner Arbeit des Unter-
grabens nur „langsam" vorwärtsgekommen sei, so lässt sich dies nicht auf die
Zeit beziehen, die er für Konzeption und Niederschrift der mehrere hundert
Seiten umfassenden Morgenröthe benötigte. Sie entstand in nur 18 Monaten
und N. selbst wartete auch das Ergebnis keineswegs geduldig ab, vielmehr
drängte er den Verleger in mehreren Briefen, die Veröffentlichung zu beschleu-
nigen. Die ringkompositorisch wiederholte Apostrophe „meine geduldigen
Freunde" (11, 21 und 17, 30 f.) scheint zu suggerieren (wenn N. nicht ganz pri-
vat, etwa zu Paul Ree und Peter Gast spricht), dass das Buch von einer gedul-
dig harrenden Lesergemeinde mit Spannung erwartet wurde. Damit wollte N.
für die Neuausgabe Aufmerksamkeit erregen, nachdem die Erstausgabe in
Wirklichkeit beinahe ganz ohne Echo geblieben war.
11, 11-14 Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will [...] weil er
weiss, was er auch haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, sei-
ne eigne Morgenröthe?...] Diese Betonung des Eigenen setzt sich im 2. Ab-
schnitt fort: „Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem:
das bringen die ,eignen Wege' mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen"
(12, 4-6). Besonders der zuletzt angeführte Passus erhebt den Anspruch auf
die individuelle, persönliche, auch existentiell schwierige Denknotwendigkeit,
zugleich auf unbedingte Originalität. N. formuliert ihn immer wieder, in den
späten Schriften dann mit größter Eindringlichkeit. In M 484 handelt er eben-
falls vom „eigenen Weg".
11, 16-17 dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische] Mehrere antike Zeug-
nisse berichten über Trophonios, er sei ein in einer Erdhöhle hausender Gott
gewesen, der dort den Menschen, die hinabstiegen, als Orakel diente. Darauf
gehen u. a. Pausanias in seiner Beschreibung Griechenlands und das von N.
benutzte byzantinische Suda-Lexikon ein. Eine Überlieferung, der zufolge die-
jenigen, die das unterirdische Orakel befragt hatten, nach ihrer Rückkehr auf
die Erdoberfläche nie mehr lachen konnten, führte zu einem Sprichwort, das
noch Erasmus von Rotterdam in seine Adagia (,Sprichwörter') aufnahm und
das auf einen melancholischen Menschen gemünzt war: „in antro Trophonii
vaticinatus est" („ihm wurde in der Höhle des Trophonios geweissagt"). Dem-
nach wollte sich N., der „Unterirdische", nicht nur als untergrabenden „Maul-
wurf" ausgeben, sondern auch als ein in der „Tiefe" (11, 6) wohnendes Orakel.
12, 19 Vertrauen zur Moral] Vgl. NK 11, 3-7.
12, 22 Gut und Böse] Im gleichen Jahr 1886, in dem N. diese „Vorrede" zur
Neu-Ausgabe der Morgenröthe verfasste, erschien seine Schrift Jenseits von Gut
ergibt sich die Schwierigkeit des Untergrabens und insbesondere die Notwen-
digkeit, sie psychologisch zu analysieren und zu paralysieren.
Wenn N. gleich am Anfang hervorhebt, dass er bei seiner Arbeit des Unter-
grabens nur „langsam" vorwärtsgekommen sei, so lässt sich dies nicht auf die
Zeit beziehen, die er für Konzeption und Niederschrift der mehrere hundert
Seiten umfassenden Morgenröthe benötigte. Sie entstand in nur 18 Monaten
und N. selbst wartete auch das Ergebnis keineswegs geduldig ab, vielmehr
drängte er den Verleger in mehreren Briefen, die Veröffentlichung zu beschleu-
nigen. Die ringkompositorisch wiederholte Apostrophe „meine geduldigen
Freunde" (11, 21 und 17, 30 f.) scheint zu suggerieren (wenn N. nicht ganz pri-
vat, etwa zu Paul Ree und Peter Gast spricht), dass das Buch von einer gedul-
dig harrenden Lesergemeinde mit Spannung erwartet wurde. Damit wollte N.
für die Neuausgabe Aufmerksamkeit erregen, nachdem die Erstausgabe in
Wirklichkeit beinahe ganz ohne Echo geblieben war.
11, 11-14 Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will [...] weil er
weiss, was er auch haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, sei-
ne eigne Morgenröthe?...] Diese Betonung des Eigenen setzt sich im 2. Ab-
schnitt fort: „Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem:
das bringen die ,eignen Wege' mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen"
(12, 4-6). Besonders der zuletzt angeführte Passus erhebt den Anspruch auf
die individuelle, persönliche, auch existentiell schwierige Denknotwendigkeit,
zugleich auf unbedingte Originalität. N. formuliert ihn immer wieder, in den
späten Schriften dann mit größter Eindringlichkeit. In M 484 handelt er eben-
falls vom „eigenen Weg".
11, 16-17 dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische] Mehrere antike Zeug-
nisse berichten über Trophonios, er sei ein in einer Erdhöhle hausender Gott
gewesen, der dort den Menschen, die hinabstiegen, als Orakel diente. Darauf
gehen u. a. Pausanias in seiner Beschreibung Griechenlands und das von N.
benutzte byzantinische Suda-Lexikon ein. Eine Überlieferung, der zufolge die-
jenigen, die das unterirdische Orakel befragt hatten, nach ihrer Rückkehr auf
die Erdoberfläche nie mehr lachen konnten, führte zu einem Sprichwort, das
noch Erasmus von Rotterdam in seine Adagia (,Sprichwörter') aufnahm und
das auf einen melancholischen Menschen gemünzt war: „in antro Trophonii
vaticinatus est" („ihm wurde in der Höhle des Trophonios geweissagt"). Dem-
nach wollte sich N., der „Unterirdische", nicht nur als untergrabenden „Maul-
wurf" ausgeben, sondern auch als ein in der „Tiefe" (11, 6) wohnendes Orakel.
12, 19 Vertrauen zur Moral] Vgl. NK 11, 3-7.
12, 22 Gut und Böse] Im gleichen Jahr 1886, in dem N. diese „Vorrede" zur
Neu-Ausgabe der Morgenröthe verfasste, erschien seine Schrift Jenseits von Gut