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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0086
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Stellenkommentar Vorrede, KSA 3, S. 13 71

weisende Aufforderung: „Zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und
Gerechten!" (KSA 4, 267, 4-7; vgl. weiterhin GM I 14, KSA 5, 282, 31-283, 9).
In AC 27 schreibt N.: „Ich sehe nicht ab, wogegen der Aufstand gerichtet war,
als dessen Urheber Jesus verstanden oder missverstanden worden ist,
wenn es nicht der Aufstand gegen die jüdische Kirche war, Kirche genau in
dem Sinn genommen, in dem wir heute das Wort nehmen. Es war ein Aufstand
gegen ,die Guten und Gerechten', gegen ,die Heiligen Israels', gegen die Hierar-
chie der Gesellschaft" (KSA 6, 198, 1-7). Hier wird erkennbar, inwiefern N. in
der Vorrede zur Morgenröthe die „Anarchisten" mit den „Guten und Gerechten"
in Verbindung bringt, und vollends deutlich wird es in der Fortsetzung, wenn
es von Jesus heißt: „Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausge-
stossnen und ,Sünder', die Tschandala innerhalb des Judenthums zum Wi-
derspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief - mit einer Sprache, falls
den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen wür-
de" (KSA 6, 198, 17-22).
13, 13-17 Die Moral hat sich [...] als die grösste Meisterin der Verführung bewie-
sen - und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philo-
sophen.] Diese Aussage untermauert N. durch die folgenden Ausführungen
zu Kant. Zwar führt er nicht Kants berühmte Formel an: „der gestirnte Himmel
über mir und das moralische Gesetz in mir", aber er weist auf die von Kant in
der Kritik der reinen Vernunft erklärte Absicht hin, den Boden „zu jenen majes-
tätischen sittlichen Gebäuden" zu bereiten (14, 4 f.). So wird Kant für N. zum
Paradebeispiel für seine These, die Moral sei die verführerische Hauptgefahr
für die Philosophen: so verführerisch wie die Zaubererin Circe, die in Homers
Odyssee (X, 229-240) den Seefahrer Odysseus und seine Gefährten ihre Zauber-
macht spüren ließ. In Ecce homo greift N. diese metaphorische Vorstellung
mehrmals auf: „Die Circe der Menschheit, die Moral" (KSA 6, 305, 21); „Die
christliche Moral war bisher die Circe aller Denker, - sie standen in ihrem
Dienst" (KSA 6, 371, 3 f.). Allerdings gilt diese Metapher nur im Hinblick auf
das Tertium comparationis der Zaubermacht, während sie über den eigentli-
chen Gehalt der gleichnishaften Darstellung Homers hinweggeht: Circe ver-
wandelt die Gefährten des Odysseus nicht etwa in Moral-Anhänger, sondern in
Schweine. In N.s Spätschrift Der Antichrist wird „Kant als Moralist" zu einem
Hauptangriffsziel (AC 11, KSA 6, 177, 7).
13, 17-19 Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeis-
ter in Europa umsonst gebaut haben?] Im Hinblick auf das im Kontext zur De-
batte stehende Thema der Moral zielt die Nennung Platons allenfalls auf die in
dessen Ideenlehre vollzogene metaphysische Verankerung der Idee des Guten,
die mit der Idee des Wahren zusammenhängt und somit Platons Konzept zufol-
 
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