Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0088
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar Vorrede, KSA 3, S. 13-14 73

den zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu
machen, in welchem sich allerlei Maulwurfsgänge einer vergeblich, aber mit
guter Zuversicht auf Schätze grabenden Vernunft vorfinden, die jenes Bauwerk
unsicher machen" (Romundt 1885, 12; Nachweis: Loukidelis 2007, 403 f.). N.
zitiert Kant in seiner 1886, also ein Jahr nach Romundts Buch erschienenen
„Vorrede" zur Morgenröthe. Kants Maulwurfsmetapher übernahm er gleich zu
Beginn der „Vorrede", um sie im Gegensinn zu verwenden und positiv umzuko-
dieren. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 steht der
zitierte Passus S. 375 f.
14, 7-10 Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht eben der rechte
Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der
Schwärmerei genannt werden darf] N. wendet hier ironisch den von Kant erho-
benen Vorwurf gegen diesen selbst. Kant attackierte zeitlebens das „Schwär-
mertum" und führte die im „Jahrhundert" der Aufklärung im Namen der Ver-
nunft gängige Schwärmer-Kritik fort. Die Schwärmerei war für Kant eine „Über-
schreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft" (Kritik der praktischen
Vernunft, Akademie-Ausgabe 7, 153) und ein Symptom der Anmaßung, „über
alle Gränze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen [...] zu wollen" (Kritik der Ur-
teilskraft, § 29, AA 5, 275). In seiner Abhandlung Von einem neuerdings erhobe-
nen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) bezeichnet Kant Platon im Hin-
blick auf den neuzeitlichen Platonismus und seine neuplatonischen Überfor-
mungen (die bei Plotin begonnen hatten) als den „Vater aller Schwärmerey
mit der Philosophie" (ΑΑ 8, 398). Indem N. in seiner Kritik an Kant dessen
Ablehnung des „Schwärmertums" übergeht, überbietet er diese zugleich:
Kants Ausrichtung auf die „Moral" attackiert er auch noch als eine Form der
Schwärmerei. Bereits in seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik hatte sich N. selbst für eine andere, ,dionysische' Art des
Schwärmertums begeistert: für „das glühende Leben dionysischer Schwärmer"
(KSA 1, 29, 16 f.).
14, 12-13 (zum Beispiel mit jenem guten Stück Sensualismus, den er in seine
Erkenntnisstheorie hinübernahm)] Der für Kant maßgebliche Vertreter des Sen-
sualismus, der alle Erkenntnisse auf Sinneswahrnehmungen zurückführte, war
David Hume (1711-1776). Den Sensualismus, der zum Empirismus tendiert, ver-
mittelt Kants Erkenntnistheorie mit dem ebenfalls aufklärerischen Rationalis-
mus: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Ver-
stand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen
ohne Begriffe sind blind" (Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787, 75).
14, 13-19 Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag
der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften