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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0090
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Stellenkommentar Vorrede, KSA 3, S. 15 75

15, 10-19 die deutsche Seele [...] die deutsche Logik [...] wittern wir Deutschen
von heute [...] dem deutschen Geiste) Wie schon in 14, 33 f. („war Kant, wie jeder
gute Deutsche von Alters her, Pessimist") neigt N. zu nationalen Verallgemei-
nerungen und Klischees, hier zu der Verbindung von Pessimismus und
Deutschtum. In seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste
der Musik hatte er noch, vor allem im Gefolge Wagners, den „deutschen Geist"
gerühmt und dagegen alles Romanische abgelehnt (vgl. KSA 1, 128, 29 und 129,
1). Nachdem er eine Kehrtwendung vollzogen hatte, bezichtigt er nun (unter
dem Vorzeichen seiner Moralkritik und aus romanischer Perspektive) die Deut-
schen sogar einer „Sünde wider den Geist". Parodistisch spielt er auf eine bibli-
sche Wendung an (Matthäus 12, 31: „Darum sage ich euch: Alle Sünde und
Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung gegen den Geist
wird nicht vergeben").
15, 13 credo quia absurdum est] Diese paradoxe Formulierung („ich glaube,
weil es widersinnig ist") wird Tertullian zugeschrieben, bei dem sich diese
prägnante Formulierung aber nicht findet; sie ist wohl von einer Wendung in
dessen Schrift De carne Christi abgeleitet („Über die Menschwerdung Christi").
Sie hebt auf die Bedingungslosigkeit eines Glaubens ab, der nicht nur über alle,
sondern gegen alle Vernunft geht, und kann als Ausdruck des prinzipiellen
Gegensatzes zwischen Glauben einerseits und Denken und Wissen andererseits
gelesen werden. In Tertullians Traktat lauten die einschlägigen, gezielt parado-
xen Formulierungen (De carne Christi, cap. 5): „crucifixus est dei filius; non
pudet, quia pudendum est. Et mortuus est dei filius; credibile prorsus est, quia
ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est quia impossibile". („Gekreuzigt
wurde Gottes Sohn; kein Anlaß zum Schämen, weil es beschämend ist. Gestor-
ben ist Gottes Sohn; es ist erst recht glaubwürdig, weil es widersinnig ist. Und
obwohl er begraben wurde, ist er auferstanden; es ist gewiss, weil es unmög-
lich ist".)
15, 18-21 hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze, mit welchem
Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf - „der
Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend" -] N.,
der keine gründliche Hegel-Kenntnis hatte, fand das Hegel-Zitat in dem von
ihm ausweislich der Lesespuren intensiv durchgearbeiteten Werk von Otto
Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Erörterung der Grundprobleme
der Philosophie (1880). Darin heißt es: „Den unumstößlichen Denkprincipien
der Logik, den Sätzen der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlosse-
nen Dritten, in welchen die Welt seit Platon und Aristoteles mit Recht die ewi-
gen Grenzen zwischen Vernunft und Wahnwitz verehrt, wurde das Hausrecht
gekündigt. ,Der Widerspruch, sagt Hegel, bewegt die Welt, alle Dinge sind sich
 
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