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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0091
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76 Morgenröthe

selbst widersprechend; dieser Satz drückt gegen die Sätze der Identität, der
Verschiedenheit, der Entgegensetzung, die Wahrheit und das Wesen der Dinge
aus. Der Widerspruch, worin Etwas in sich das Negative seiner selbst ist, ist
die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit.' (!!) (Anm.: Hegels Werke, Bd.
IV, S. 67)" (Liebmann 1880, 246). Das Zitat stammt aus Hegels Wissenschaft der
Logik (2. Teil, 2. Buch, 2. Kapitel, C: Der Widerspruch, Anmerkung 3). Gegen
Fichtes Identitätsphilosophie, auch gegen diejenige Schellings, stellt Hegel
den Widerspruch nicht als statuarisches, sondern bewegendes Prinzip des Ge-
schehens, das N. als „realdialektischen Grundsatz" bezeichnet. Den Begriff
„Realdialektik" übernimmt N. von Julius Bahnsen, den er eifrig studiert hat:
Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Prinzip und Einzelbewährung
der Realdialektik (1882).
Die Aussage, dass Hegel dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa ver-
half, gilt einerseits der enormen Wirkung von Hegels dialektischer Philosophie
bis weit ins 19. Jahrhundert hinein; andererseits bringt N. mit der Wendung
„seiner Zeit" zum Ausdruck, dass diese große Wirkung nun bereits der Vergan-
genheit angehöre. N.s Ablehnung der Hegelschen Philosophie beginnt schon
in seinen frühen Schriften, in denen er als Anhänger Schopenhauers dessen
polemische Attacken auf Hegel übernimmt. Sie reicht über das mittlere bis ins
späte Werk, wobei sich die antimetaphysische und gegen die idealistische
Geistphilosophie gerichtete Tendenz verschärft. Diese Tendenz hatte sich
schon längst - seit Hegels Tod - im europäischen und „deutschen Geist" abge-
zeichnet: in der Wendung zum Positivismus, zu einem gesellschaftlich orien-
tierten Realismus, zu einer naturalistischen und materialistischen Welterklä-
rung. Letztere hatte N. schon früh in dem zuerst 1866 erschienenen Erfolgs-
buch Friedrich Albert Langes: Geschichte des Materialismus zustimmend zur
Kenntnis genommen (NPB). Hegels „realdialektischen Grundsatz" wertet N.
hier jedoch - trotz aller grundsätzlichen Hegel-Kritik - weitgehend positiv: als
Ausdruck eines spezifisch deutschen Pessimismus in Logicis.
15, 24-28 Aber nicht die logischen Werthurtheile sind die untersten und
gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsers Argwohns hinunterkann: das Ver-
trauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser Urtheile steht und fällt, ist,
als Vertrauen, ein moralisches Phänomen ...] Der Ausdruck „logische Werth-
urtheile" lässt N.s erst in den Achtzigerjahren (die „Vorrede" wurde 1886 ver-
fasst und erschien mit der Neu-Ausgabe der Morgenröthe 1887) ausgeprägte
Grundposition erkennen, der zufolge es keine Werte an sich und daher auch
keine a priori fundierten Werturteile gibt: Werte und Werturteile seien lediglich
Ausdruck von Wertschätzungen. Mit dieser Auffassung werden sie subjektiviert
und zugleich historisch relativiert. Im mehrfach markierten Begriff des „Ver-
trauens", der zuerst auf das „Vertrauen zur Moral" (12, 19) und nunmehr
 
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