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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0092
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Stellenkommentar Vorrede, KSA 3, S. 15-16 77

auch auf das „Vertrauen auf die Vernunft" zielt, schlägt diese Subjektivierung
und Relativierung durch. Indem N. das „Vertrauen auf die Vernunft" als „mora-
lisches Phänomen" deutet, versucht er nicht nur die „logischen Werthurtheile"
mit den moralischen Werturteilen engzuführen, sondern sie auch letztlich auf
moralische Werturteile zu reduzieren. Damit soll sein in der Morgenröthe unter-
nommener Angriff auf die Moral eine fundamentale und universale Relevanz
erhalten. Der Schlüsselbegriff des „Vertrauens" gehört zu den zu hinterfragen-
den Voreinstellungen, die N. im Untertitel der Morgenröthe als „Vorurtheile"
bezeichnet. Das „Vertrauen" ist schon Gegenstand der aufklärerischen Vorur-
teilslehre im 18. Jahrhundert: In ihr gibt es das Vorurteil aus zu großem Ver-
trauen (praeiudicium nimiae confidentiae), das oft eine bloße Variante des Vor-
urteils aus Autoritätsgläubigkeit ist (praeiudicium auctoritatis), ebenso wie das
entgegengesetzte Vorurteil aus zu großem Misstrauen (praeiudicium nimiae
diffidentiae). Inwiefern allerdings der Kampf gegen Vorurteile, auch der gegen
die moralischen, wiederum nur aufgrund eines anderen ,Vorurteils' unternom-
men werden kann, wird ebenso wenig erörtert wie die infinite Regressivität des
Vorurteilsdenkens.
In N.s Darstellung löst sich der Begriff der Moral und des Moralischen weit-
gehend auf, gerade weil er ihn zu einem universellen Interpretationsmuster
ausweitet. Vor allem in den ersten beiden Büchern der Morgenröthe greift N.
die Formen der spezifisch christlichen Moral und die von ihr abgeleiteten säku-
larisierten Moralvorstellungen an. Weit darüber hinaus reicht in der später ver-
fassten Vorrede die Interpretation des Vertrauens auf logische Werturteile als
eines „moralischen Phänomens" und die alsbald (vgl. den folgenden Stellen-
kommentar) exponierte Paradoxie, in diesem Buch werde „der Moral das Ver-
trauen gekündigt - warum doch? Aus Moralität!" (16, 3 f.)
16, 1-4 sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in
der That einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der
Moral das Vertrauen gekündigt - warum doch? Aus Moralität!] Mit dem Be-
kenntnis zum „Widerspruch" schließt N. an den am Ende des vorausgehenden
3. Kapitels zitierten Hegel-Satz an: „der Widerspruch bewegt die Welt, alle Din-
ge sind sich selbst widersprechend" (15, 20 f.) Damit gibt er zu verstehen, dass
er sich trotz seiner immer wieder formulierten Kritik an Hegel gerade diesen
„real-dialektischen" Grundsatz zu eigen macht, und zwar (wie es am Ende des
3. Kapitels heißt), weil „wir Deutschen von heute" „Etwas von Wahrheit, von
Möglichkeit der Wahrheit" darin „wittern" (15, 16-20). Die „Moralität",
aus welcher der Moral das Vertrauen gekündigt wird, gehört demnach in die
Sphäre der „Wahrheit", der von N. in der Morgenröthe und später immer wieder
für sich selbst beanspruchten „Redlichkeit" (hierzu ausführlich NK M 456), ge-
nauer: der Wahrheitsliebe, weil diese in ihrer radikalen Unbedingtheit sich
 
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