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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0094
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Stellenkommentar Vorrede, KSA 3, S. 16 79

homo, wo er überall der „Erste" zu sein beansprucht: „Ich bin der erste Im-
moralist" (KSA 6, 319, 17; analog KSA 6, 366, 32 f.) - wahrscheinlich, weil er
sich als radikalsten aller Immoralisten begreift.
16, 22-24 feind, kurzum, dem ganzen europäischen Femininismus (oder
Idealismus, wenn man's lieber hört), der ewig „hinan zieht" und ewig gerade
damit „herunter bringt"] Den Begriff „Femininismus" verwendet N. hier im Sin-
ne einer mentalen Verweiblichung und Verweichlichung, die sich mit dem
„Idealismus" einen höheren Sinn zurechtmacht und sich metaphysischen Illu-
sionen hingibt, statt diese in intellektueller Redlichkeit zu verabschieden. Der
„Femininismus" der „ewig ,hinan zieht"', spielt auf die Schlussverse von Goe-
thes Faust II an: „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan" (V. 12110 f.). Zum Be-
griff des „Femininismus" ausführlich NK 6/2, 303, 19-22.
16, 29-33 als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens,
wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit
Lust verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, - die
Selbstaufhebung der Moral. —] Das Wort „ihres" in dem Passus „als
Vollstrecker ihres innersten Willens" bezieht sich auf die „Jahrtausende" der
„deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit" (16, 26 f.). N. scheint hier
nicht eine intentionale Struktur („innerster Wille"), sondern im Sinne von
Schopenhauers Willensbegriff eine naturhafte Triebverfassung zu meinen. Dies
legt die alsbald folgende Wendung nahe, dass es sich um einen „pessimisti-
schen Willen" handelt. Trotz seiner in früheren Texten formulierten Kritik an
Hegels teleologischem Denken entwirft N. hier selbst ein teleologisches Ge-
schichtsschema, indem er die „Immoralisten", als deren Vordenker und Spre-
cher er auftritt, als endgültige „Vollstrecker" dieses angeblich „innersten Wil-
lens" bezeichnet. Und trotz der Absage an Schopenhauers lebenverneinenden
Pessimismus, einer Absage, die er - nach der frühen Adaptation von Schopen-
hauers Pessimismus - in den späteren Schriften entschieden markiert hatte
(ein prägnantes Beispiel ist der ebenfalls 1886 verfasste „Versuch einer Selbst-
kritik" zur Geburt der Tragödie), kehrt er nun doch wieder grundsätzlich zu
Schopenhauers „verneinendem", ja am Ende der Welt als Wille und Vorstellung
nihilistisch auf das „Nichts" zielenden Pessimismus zurück („eines pessimisti-
schen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu vernei-
nen").
Im Sinne dieses Pessimismus versucht N. schon im vorausgehenden 3. Ka-
pitel der „Vorrede" die gesamte deutsche Geistes-Tradition zu interpretieren. So
sei „Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist" gewesen (14,
33 f.); er will „an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern gros-
sen Pessimisten" (15, 4 f.), und am Ende schließt er sogar Hegel direkt in das
 
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