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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0097
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82 Morgenröthe

Erstes Buch
1
19, 3 Nachträgliche Vernünftigkeit.] Schon in seinen Frühschriften kri-
tisiert N. zugunsten eines unhintergehbaren „Lebens" die „Vernunft", die „Ver-
nünftigkeit" und das „Wissen" als sekundäre, wenn nicht sogar als von der
ursprünglichen Lebendigkeit des Daseins entfremdete Niedergangs- und Spät-
zeitsymptome. Unter dieser Voraussetzung erscheint hier die „Vernünftigkeit"
als Ergebnis eines nachträglichen Rationalisierungsprozesses, das aber einem
naiven, geschichtlich unreflektierten Bewusstsein nicht schon durch die „Ge-
schichte einer Entstehung" fragwürdig erscheint. Der „gute Historiker" dage-
gen, der die Genealogie der „Vernünftigkeit" erfasst (wie alsbald auch die Ge-
nealogie der „Moral", vgl. Μ 3), tendiere zum Widerspruch gegen die unhisto-
risch wertende Einschätzung des historisch Gewordenen. Bereits in der
vorausgehenden Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzumenschliches hat-
te N. Geschichtlichkeit zum universellen Interpretationspostulat erklärt. „Der
Erbfehler aller Philosophen", so kritisierte er, sei ihr „Mangel an historischem
Sinn". Und er statuiert: „Alles aber ist geworden" (KSA 2, 24 f. und 25, llf.).
2
19, 10 Vorurtheil der Gelehrten.] Schon mit dem Leitbegriff „Vorurtheil"
und der Thematisierung der moralisch wertenden Begriffe „gut und böse"
greift N. auf den Untertitel der Morgenröthe zurück: Gedanken über die morali-
schen Vorurtheile. Vgl. hierzu den Überblickskommentar S. 19-22. Die doppelte
Hervorhebung der zeitlichen Dimension moralischer Vorstellungen und Wer-
tungen enthält ein Plädoyer für deren historisierende Relativierung, zugleich
aber auch gegen die Fixierung eines - nicht historisch-skeptisch reflektierten -
,Wissens'. Indem N. mit den Wertungen „gut und böse" die Formen der Wer-
tungsakte verbindet („lobens- und tadelnswerth"), weist er auf spätere Texte
der Morgenröthe voraus, in denen er Lob und Tadel als vorurteilshaft bedingt
darstellt, insofern sie bewusst oder unbewusst interessengelenkt sind (vgl. Μ
228, M 259, M 273).
3
19, 16 Alles hat seine Zeit.] Wie schon in den ersten beiden Texten reflek-
tiert N. hier die geschichtliche Bedingtheit und damit die Relativität aller Vor-
stellungen. Er macht auf fragwürdige Bedeutungszuschreibungen aufmerksam
 
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