84 Morgenröthe
neten befestigt seien. Kepler zog die Konsequenz aus den neuen astronomi-
schen Entdeckungen. Obwohl er Giordano Brunos These von der Unendlichkeit
des Universums ablehnte, schrieb er, dass „die Existenz von Sphären im Him-
mel ausgeschlossen werden müsse", der Himmel sei nach allen Seiten hin of-
fen und die Planeten bewegten sich nicht durch das Rotieren von „Sphären"
(Kepler 1858, Bd. I, 44 und 159). Damit war ein zentrales Dogma der traditionel-
len Kosmologie zu Fall gebracht: das der Geschlossenheit und Unveränderlich-
keit des Kosmos. Indem Goethe zu Beginn des Faust I wie des Faust II dennoch
auf die Vorstellung von den „Sphären" und der „Sphärenharmonie" zurück-
griff, konnte er sie nur noch dichterisch-metaphorisch meinen.
Dass Goethe mit Evokationen der Sphärenharmonie beide Teile des Faust
eröffnet, verleiht dieser Vorstellung jenseits der wissenschaftlich erledigten
Theorie die Qualität einer Metapher fundamentaler naturhafter Ordnung und
Gesetzlichkeit. Dass es entgegen dieser Tradition, welche die Großartigkeit der
Sphärenharmonie als kosmologischen ,Traum' gestaltet (vgl. Ciceros Traum des
Scipio), laut N. eine „erträumte Disharmonie der Sphären" gebe, lässt sich al-
lenfalls als metaphorische Analogie der zeitgenössischen ,Ästhetik des Hässli-
chen' verstehen (ein Ausdruck, den 1853 erstmals der Hegel-Schüler Karl Ro-
senkranz aufbrachte), die das Dissonante und Disharmonische als adäquaten
Ausdruck der Modernität favorisierte. Vgl. NK M 468.
5
20, 12 Seid dankbar!] Die in diesem Text formulierte scheinbar triviale
Feststellung hat ihre polemische Pointe in der Korrelierung der primitiven und
handfesten Formen der „Furcht" vor Tieren und Barbaren und der Furcht „vor
Göttern und unseren Träumen", also irrealen, auf Illusionsbildungen zurück-
gehenden Gegenständen. Immer wieder lässt N. (wie auch der mit ihm zu die-
ser Zeit eng verbundene Paul Ree) eine Orientierung an der aufklärerisch gegen
die Religion und die Annahme von „Göttern" gerichteten Schrift des Lukrez
De rerum natura erkennen. Darin misst Lukrez, im Anschluss an den von ihm
verehrten Epikur, der Befreiung vom Glauben an Götter und damit auch der
Befreiung von der Furcht vor diesen (die sich in der christlichen „Gottesfurcht"
fortsetzte) große Bedeutung zu. Seit der Entdeckung in der frühen Neuzeit war
das Lehrgedicht des Lukrez ein Referenzwerk aufklärerischen und freigeisteri-
schen Denkens. Das gilt auch für die antiklerikale und atheistische Freidenker-
Bewegung, die sich in N.s Zeit neu formierte. Ihr Protagonist in Deutschland
und weit über Deutschland hinaus, Ludwig Büchner, schrieb in seinem erst-
mals 1855 erschienenen Buch Kraft und Stoff, dessen 14. Auflage 1876 wesent-
lich angereichert war durch physiologische und ethnologische Kenntnisse, von
neten befestigt seien. Kepler zog die Konsequenz aus den neuen astronomi-
schen Entdeckungen. Obwohl er Giordano Brunos These von der Unendlichkeit
des Universums ablehnte, schrieb er, dass „die Existenz von Sphären im Him-
mel ausgeschlossen werden müsse", der Himmel sei nach allen Seiten hin of-
fen und die Planeten bewegten sich nicht durch das Rotieren von „Sphären"
(Kepler 1858, Bd. I, 44 und 159). Damit war ein zentrales Dogma der traditionel-
len Kosmologie zu Fall gebracht: das der Geschlossenheit und Unveränderlich-
keit des Kosmos. Indem Goethe zu Beginn des Faust I wie des Faust II dennoch
auf die Vorstellung von den „Sphären" und der „Sphärenharmonie" zurück-
griff, konnte er sie nur noch dichterisch-metaphorisch meinen.
Dass Goethe mit Evokationen der Sphärenharmonie beide Teile des Faust
eröffnet, verleiht dieser Vorstellung jenseits der wissenschaftlich erledigten
Theorie die Qualität einer Metapher fundamentaler naturhafter Ordnung und
Gesetzlichkeit. Dass es entgegen dieser Tradition, welche die Großartigkeit der
Sphärenharmonie als kosmologischen ,Traum' gestaltet (vgl. Ciceros Traum des
Scipio), laut N. eine „erträumte Disharmonie der Sphären" gebe, lässt sich al-
lenfalls als metaphorische Analogie der zeitgenössischen ,Ästhetik des Hässli-
chen' verstehen (ein Ausdruck, den 1853 erstmals der Hegel-Schüler Karl Ro-
senkranz aufbrachte), die das Dissonante und Disharmonische als adäquaten
Ausdruck der Modernität favorisierte. Vgl. NK M 468.
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20, 12 Seid dankbar!] Die in diesem Text formulierte scheinbar triviale
Feststellung hat ihre polemische Pointe in der Korrelierung der primitiven und
handfesten Formen der „Furcht" vor Tieren und Barbaren und der Furcht „vor
Göttern und unseren Träumen", also irrealen, auf Illusionsbildungen zurück-
gehenden Gegenständen. Immer wieder lässt N. (wie auch der mit ihm zu die-
ser Zeit eng verbundene Paul Ree) eine Orientierung an der aufklärerisch gegen
die Religion und die Annahme von „Göttern" gerichteten Schrift des Lukrez
De rerum natura erkennen. Darin misst Lukrez, im Anschluss an den von ihm
verehrten Epikur, der Befreiung vom Glauben an Götter und damit auch der
Befreiung von der Furcht vor diesen (die sich in der christlichen „Gottesfurcht"
fortsetzte) große Bedeutung zu. Seit der Entdeckung in der frühen Neuzeit war
das Lehrgedicht des Lukrez ein Referenzwerk aufklärerischen und freigeisteri-
schen Denkens. Das gilt auch für die antiklerikale und atheistische Freidenker-
Bewegung, die sich in N.s Zeit neu formierte. Ihr Protagonist in Deutschland
und weit über Deutschland hinaus, Ludwig Büchner, schrieb in seinem erst-
mals 1855 erschienenen Buch Kraft und Stoff, dessen 14. Auflage 1876 wesent-
lich angereichert war durch physiologische und ethnologische Kenntnisse, von