Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 20-21 87
7
21, 2 Umlernen des Raumgefühls.] Die einleitende Frage: „Haben die
wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück
beigetragen?" spielt auf einen von Epiktet überlieferten Ausspruch an, den N.
in Μ 563 mit den Worten aufgreift: „Nicht die Dinge, sondern die Meinun-
gen über die Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so
verstört!" Den Bezug zum menschlichen „Glück" (und Unglück) stellt schon
Schopenhauer mit seiner Erklärung von Epiktets Ausspruch dar. Vgl. hierzu
und zu verwandten Aussagen Epikurs NK M 563. Im Kontext von N.s entschie-
den antichristlicher ,Moral'-Kritik erinnert die Rede von der „Weite des
Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück", die „erst mit Hülfe
der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist", an die polarisierende (und mo-
ralisierende) christliche Vorstellung von Himmel („höchstes Glück") und Hölle
(„tiefstes Unglück") - eine Vorstellung, die ein nunmehr obsoletes „Raumge-
fühl" suggeriert. Zur Berufung auf Epikur in Verbindung mit der Angst vor der
„Hölle", von der er durch „Wissenschaft" befreien wollte, vgl. insbesondere M
72 und NK hierzu.
8
21, 12 Transfiguration.] In diesem Text geht N. auf Raffaels letztes Bild
ein. Er kannte es aus der Beschreibung Jacob Burckhardts in dessen Cicerone,
den er in seiner persönlichen Bibliothek besaß (Burckhardt 1869, Bd. 3, 917 ff.).
Schon in der Geburt der Tragödie erwähnte N. dieses in der Pinacoteca Vatica-
na ausgestellte Werk Raffaels, um es noch ganz im Sinne Schopenhauers zu
interpretieren. Hierzu KSA 1, 39, 12-17 sowie der entsprechende Kommentar.
Raffael gestaltete auf der obersten der drei Bildebenen die Verklärung Christi
zwischen Moses und Elias auf dem Berg Tabor (nach Matthäus 17, 1-13; Markus
9, 2-13; Lukas 9, 28-36). Darunter, auf der mittleren Bildebene, befinden sich
vom Licht der Verklärung geblendete Gestalten, noch eine Ebene tiefer auf der
rechten Bildhälfte Menschen, die angesichts eines kranken Knaben hilflos da-
stehen. In der linken Hälfte dieser unteren Bildebene weist ein Jünger die hilfe-
suchenden Angehörigen des kranken Knaben mit ausgestrecktem Arm auf den
als heilbringende Erscheinung verklärt in der Höhe schwebenden Christus. Für
N. repräsentieren die Menschen mit dem kranken Knaben auf der untersten
Bildebene die „rathlos Leidenden"; für die angeblich „verworren Träumenden"
gibt es keinen Anhaltspunkt auf der mittleren Bildebene, denn es handelt sich
um vom überirdischen Licht der Verklärung geblendete - nicht „verworren
träumende" - Menschen; auf der obersten Bildebene erscheinen Moses und
Elias zu den Seiten des verklärten Christus als „überirdisch Entzückte": N. ver-
7
21, 2 Umlernen des Raumgefühls.] Die einleitende Frage: „Haben die
wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück
beigetragen?" spielt auf einen von Epiktet überlieferten Ausspruch an, den N.
in Μ 563 mit den Worten aufgreift: „Nicht die Dinge, sondern die Meinun-
gen über die Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so
verstört!" Den Bezug zum menschlichen „Glück" (und Unglück) stellt schon
Schopenhauer mit seiner Erklärung von Epiktets Ausspruch dar. Vgl. hierzu
und zu verwandten Aussagen Epikurs NK M 563. Im Kontext von N.s entschie-
den antichristlicher ,Moral'-Kritik erinnert die Rede von der „Weite des
Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück", die „erst mit Hülfe
der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist", an die polarisierende (und mo-
ralisierende) christliche Vorstellung von Himmel („höchstes Glück") und Hölle
(„tiefstes Unglück") - eine Vorstellung, die ein nunmehr obsoletes „Raumge-
fühl" suggeriert. Zur Berufung auf Epikur in Verbindung mit der Angst vor der
„Hölle", von der er durch „Wissenschaft" befreien wollte, vgl. insbesondere M
72 und NK hierzu.
8
21, 12 Transfiguration.] In diesem Text geht N. auf Raffaels letztes Bild
ein. Er kannte es aus der Beschreibung Jacob Burckhardts in dessen Cicerone,
den er in seiner persönlichen Bibliothek besaß (Burckhardt 1869, Bd. 3, 917 ff.).
Schon in der Geburt der Tragödie erwähnte N. dieses in der Pinacoteca Vatica-
na ausgestellte Werk Raffaels, um es noch ganz im Sinne Schopenhauers zu
interpretieren. Hierzu KSA 1, 39, 12-17 sowie der entsprechende Kommentar.
Raffael gestaltete auf der obersten der drei Bildebenen die Verklärung Christi
zwischen Moses und Elias auf dem Berg Tabor (nach Matthäus 17, 1-13; Markus
9, 2-13; Lukas 9, 28-36). Darunter, auf der mittleren Bildebene, befinden sich
vom Licht der Verklärung geblendete Gestalten, noch eine Ebene tiefer auf der
rechten Bildhälfte Menschen, die angesichts eines kranken Knaben hilflos da-
stehen. In der linken Hälfte dieser unteren Bildebene weist ein Jünger die hilfe-
suchenden Angehörigen des kranken Knaben mit ausgestrecktem Arm auf den
als heilbringende Erscheinung verklärt in der Höhe schwebenden Christus. Für
N. repräsentieren die Menschen mit dem kranken Knaben auf der untersten
Bildebene die „rathlos Leidenden"; für die angeblich „verworren Träumenden"
gibt es keinen Anhaltspunkt auf der mittleren Bildebene, denn es handelt sich
um vom überirdischen Licht der Verklärung geblendete - nicht „verworren
träumende" - Menschen; auf der obersten Bildebene erscheinen Moses und
Elias zu den Seiten des verklärten Christus als „überirdisch Entzückte": N. ver-