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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0103
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88 Morgenröthe

wendet das Wort „entzücken" auch sonst immer wieder im alten, noch nicht
abgeflachten Sinn ekstatischer Hingerissenheit. Von der ahistorischen Inter-
pretation des Bildes in der Geburt der Tragödie wechselt N. nun zu einer histo-
risierenden Betrachtung. Während er in der Tragödienschrift eine an Schopen-
hauers pessimistischer Weltsicht orientierte „Wiederspiegelung des ewigen Ur-
schmerzes, des einzigen Grundes der Welt" in dem Gemälde erkennen will
(KSA 1, 39, 19 f.), konstatiert er nun sowohl im Hinblick auf die Menschen der
Gegenwart wie auch auf den ebenfalls zeitgebundenen Künstler mit einem
doppelten „nicht mehr" die historische Bedingtheit sowohl des Wahrnehmen-
den wie des Schaffenden. Erneut nimmt er damit die geschichtliche Interpreta-
tion alles Geschehens und Verstehens auf, die er schon in den ersten drei Tex-
ten der Morgenröthe exponiert.
9
21, 19 Begriff der Sittlichkeit der Sitte.] Wie manche der anderen Tex-
te der Morgenröthe hat auch dieser aufgrund seiner Länge und seiner Gedan-
kenführung nicht die knappe Schärfe eines typischen Aphorismus und ande-
rerseits auch nicht die experimentelle Offenheit und Brillanz eines Essays. Er
verfolgt ein rhetorisches Frage- und Antwortspiel, um die „Entstehung der Mo-
ral" (21, 25 f.) zu erörtern. Nach einer horizontbildenden Einleitung, welche die
Moral als bloße „Sittlichkeit der Sitte" im Sinne einer „herkömmlichen Art
zu handeln und abzuschätzen" (22, 2 f.) darstellt, fragt N.: „Was ist das Herkom-
men?" (22, 17 f.) Damit greift er ein Thema auf, das er bereits in MA I 96 abge-
handelt hatte. Dort hatte er unter dem Stichwort „Sitte und sittlich" fol-
gende einleitende Definition gegeben: „Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst
Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben" (KSA 2,
92, 26-28). Schon in UB IV: Richard Wagner in Bayreuth hatte er konstatiert,
dass es einem freien Menschen nicht anstehe, sich an die „Sittlichkeit des Her-
kommens" zu „verlieren" (KSA 1, 506, 29-507, 3). Sowohl in der Morgenröthe
(vgl. Μ 104, M 105, besonders M 111) wie in der Fröhlichen Wissenschaft (FW 29)
stellt er dem „Herkommen" die „Gewohnheit" zur Seite - ein ebenfalls schon
traditionelles Element der Reflexion auf Moral und moralische Wertungen. Vgl.
NK M 111. Hier, in M 9, zielt er auf den ,sittlich' erscheinenden Menschen mit
der zuspitzenden Frage: „Wer ist der Sittlichste?" (22, 33 f.) Und nach der Fest-
stellung, dass es derjenige sein müsse, welcher der Sitte am meisten opfert,
fragt er weiter: „welches aber sind die grössten Opfer?" (23, 6) Auf jede dieser
Fragen folgt eine Antwort, die darauf zielt, das Herkommen unter jeweils ver-
schiedenen Aspekten als normbildend zu charakterisieren. Als zentrales
Moment erscheint insgesamt die Unterordnung des Individuums unter die
überindividuelle Autorität von so zustandegekommenen Normen. Diese Art der
 
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