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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0108
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 26 93

Transformationen dieser antiken Überlieferung kam es im 19. Jahrhundert zu
einer Verwissenschaftlichung des Junktims von Genie und Wahnsinn durch die
moderne Medizin, vor allem im Bereich der Neurologie. Im Jahre 1859 gab der
französische Arzt Jacques-Joseph Moreau de Tours sein grundlegendes, die Er-
gebnisse der bisherigen Vererbungs- und Degenerationsforschung systema-
tisch aufarbeitendes Werk heraus: La psychologie morbide dans ses rapports
avec la philosophie de l'histoire ou de l'influence des nevropathies sur le dyna-
misme intellectuel (vgl. NK 6/1, 69, 14 f.). Moreau sieht darin hohe und außerge-
wöhnliche Geistesgaben in enger Beziehung zum Pathologischen, insbesonde-
re zu erblich nachweisbaren Defekten des Nervensystems, wie sie im Wahnsinn
manifest werden. Eine seiner entscheidenden Feststellungen lautet: „La dete-
rioration de l'homme physique est une condition du perfectionnement de
l'homme moral. - L'intelligence humaine n'est jamais plus pres de faillir que
lorsqu'elle s'eleve ä de plus grandes hauteurs. Les causes de sa decadence sont
aussi celles de sa grandeur" („Der Niedergang der physischen Verfassung des
Menschen ist eine Bedingung für die Vervollkommnung des geistigen Men-
schen. - Die menschliche Geisteskraft ist niemals ihrem Zusammenbruch nä-
her als dann, wenn sie sich zu den größten Höhen erhebt. Die Ursachen für
ihren Verfall [decadence] sind auch diejenigen für ihre Großartigkeit".
Moreaus Buch setzte eine große, kontroverse Diskussion über den Zusam-
menhang von Genialität und Wahnsinn in Gang. Alsbald nahm Cesare Lombro-
so Moreaus Einsichten auf, reicherte sie durch umfangreiches pathographi-
sches Material dokumentarisch an und verbreitete sie in glänzender schriftstel-
lerischer Form über ganz Europa. Lombrosos Hauptwerk Genio e follia erschien
zuerst im Jahre 1864 (4. Aufl. 1882). Es zählte schon bald zum allgemeinen
Wissen und bildet einen wichtigen zeitgenössischen Kontext von N.s Reflexio-
nen über ,Genie und Wahnsinn'. Es ist auch von Interesse im Hinblick auf die
in N.s Schriften nach 1880 immer mehr in den Vordergrund tretende Themati-
sierung der Decadence. Eine deutsche Übersetzung von Lombrosos Genio e fol-
lia erschien unter dem Titel Genie und Irrsinn sogar als Reclamheft - im selben
Jahr wie die mit einer Vorrede versehene neue Ausgabe der Morgenröthe. In
seinen späteren Werken konzentrierte sich Lombroso auf das Thema ,Genie
und Degeneration' in nicht weniger als drei Bänden (Genio e degenerazione I,
1894; II, 1898; III, 1907). N. hatte bereits in der Geburt der Tragödie und in
den Unzeitgemäßen Betrachtungen mehrmals die Begriffe ,Degeneration' und
,Entartung' aufgegriffen. Eine von Lombrosos summarischen Formulierungen
lautete: „II genio e una forma di nevrosi degenerativa" (Lombroso 1907, 270).
Auch viele andere Werke traktierten das seit 1870 epidemisch verbreitete
Mode-Thema der Entartung, teils im positiven Sinn der Genialisierung, teils im
pejorativen Sinn einer bloß krankhaften biologischen und geistigen Devianz,
 
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