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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0109
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94 Morgenröthe

so Max Nordaus internationaler Bestseller Entartung, der erstmals 1892/93 er-
schien. Nach dem Ausbruch von N.s Wahnsinn (Anfang 1889) und seinem sich
prompt einstellenden Ruhm wurde N. selbst zu einem prominenten Beispiel in
derartigen Theorien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein - in Deutschland in
dem erstmals 1927 erschienenen und noch über Jahrzehnte hinweg immer wie-
der neuaufgelegten Werk des Psychiaters Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie, Irr-
sinn und Ruhm. Thomas Mann fiktionalisierte die Problematik in einer Reihe
seiner bedeutendsten Werke - von den Buddenbrooks über den Zauberberg bis
hin zum Doktor Faustus, für den N. sowohl mit seinen eigenen Vorstellungen
wie mit seinem Schicksal ein wesentliches Substrat bildete (hierzu und zum
gesamten Komplex: Jochen Schmidt 2004, besonders Bd. 2, 252-277.).
N.s Reflexionen zum Thema ,Genie und Wahnsinn' in M 14 verschränken
sich als theoretische Vorgabe mit der Geschichte seines Lebens zu einem über-
greifenden Wirkungszusammenhang, den er als Geschichte seines von ihm
selbst projektierten Ruhmes gedanklich vororganisiert. So setzt er bei der histo-
rischen Überlegung an, dass denjenigen Menschen, die den großen Durch-
bruch erzielen wollten, zum Zweck der höheren Beglaubigung (27, 23: „durch
den Wahnsinn sich beglaubigen") nichts anderes übrigblieb, „wenn sie
nicht wirklich wahnsinnig waren" (N.s Hervorhebung), „als sich
wahnsinnig zu machen oder zu stellen" (27, 18-20); und er fährt fort: „Wie
macht man sich wahnsinnig, wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu
scheinen?" (27, 27 f.) Und nach der Erörterung mehrerer Praktiken zur manipu-
lativen Erzeugung von Wahnsinn, zu der ihn ethnologische Werke anregten,
vor allem Gustav Roskoff: Das Religionswesen der rohesten Naturvölker (Roskoff
1880, 156-159; Nachweis: Orsucci 1996, 195 f.), kommt er noch einmal, und
pointierend, auf die schmerzensvoll herbeizuführende Selbstbeglaubigung
durch den Wahnsinn zurück. In rollenhafter Verfremdung stimmt er in „jene
Seufzer der Einsamen und Verstörten" ein: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr
Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien
und Zuckungen [...] nur dass ich bei mir selber Glauben finde!" (28, 10-17)
In den Rahmen der psychologisierenden Subversion des Christentums und
seiner „Moral" passt N. diese doch weit darüberhinausgehenden Ausführun-
gen ein, indem er besonders auf die urchristlichen „Heiligen" und „Wüsten-
Einsiedler" (28, 25) - die Anachoreten, deren Prototyp Antonius Eremita ist -
abhebt, um damit bereits die Anfänge des Christentums als wahnhaft zu cha-
rakterisieren. In die gleiche Richtung, halb identifikatorisch, halb subversiv,
weisen seine Anspielungen auf den an anderer Stelle der Morgenröthe als ,Er-
finder' des Christentums dargestellten Paulus, der die entscheidende Wendung
von der traditionellen jüdischen Gesetzes-Religion zum „neuen Geist" (28,
20 f.) des Christentums vollzog, nachdem er in visionärer Ekstase, die an den
 
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