102 Morgenröthe
der Wilden) das Wort ,Religion' durch ,Aberglaube' ersetzen sollte' [Lubbock
1875, 169]." (Roskoff 1880, 13)
Auch an folgende Ausführungen Roskoffs lehnt sich N. partiell an: „Was
uns verbrecherisch erscheint, das begeht der Wilde ganz unbefangen, und um-
gekehrt hält er für Sünde und Verbrechen, was wir gar nicht beachten würden.
So konnten die mongolischen Kahne das Verbrechen, Eisen ins Feuer zu legen
oder sich auf eine Pritsche zu lehnen, mit dem Tode bestrafen" (Roskoff 1880,
150; Nachweise: Orsucci 1996, 195 f.).
17
29, 24 Die gute und die böse Natur.] Zentral in N.s Moralkritik, die alle
moralischen Urteile als bloße „Vorurtheile" entlarvt, sind die Vorstellungen von
„Gut" und „Böse". Hier werden sie durch relativierende Historisierung (29,
24 f.: „Erst haben die Menschen"; 29, 29: „Dann kam einmal eine Zeit") entkräf-
tet. Diese Strategie einer relativierenden und damit alle normative Qualität auf-
hebenden Historisierung ,moralischer' Wertungen verfolgt N. in zahlreichen
Texten der Morgenröthe. Was er über Rousseau und seine Berufung auf eine
„gute Natur" sagt, beschränkt sich allerdings auf die zivilisationskritisch moti-
vierte Tendenz zum Rückzug in die Idylle („Winkel"). Zu N.s Auseinanderset-
zung mit Rousseaus Zivilisationskritik vgl. Μ 163.
18
30, 5 Die Moral des freiwilligen Leidens.] Die unter dieser Leitvorstel-
lung stehende Erörterung entwirft eine Genealogie der „Moral" aus dem „Ge-
nuss der Grausamkeit" (30, 10 f.). Es handelt sich um einen Genuss, weil
der Grausame ein „Machtgefühl" (30, 30) verspürt. Dieses erhält in späteren
Aphorismen und in den nachgelassenen Notizen aus dieser Zeit besonderes
Interesse und leitet zum Theorem des „Willens zur Macht" über, das in nachge-
lassenen Notaten aus der Zeit der Morgenröthe schon formuliert wird (NL 1880,
7[206], KSA 9, 360; NL 1880, 9[14], KSA 9, 412). N. greift in M 18 und in einer
Reihe anderer Texte auf ein Werk von Herbert Spencer zurück: Die Thatsachen
der Ethik. Autorisirte deutsche Ausgabe (1879). Zu Spencer und Mill vgl. vor
allem Fornari 2009. In einem Brief vom 28. Dezember 1879 hatte N. seinen Ver-
leger Ernst Schmeitzner um Zusendung von Spencers Werk gebeten, das er
in den folgenden Monaten studierte, wie die Reflexe in den nachgelassenen
Aufzeichnungen und in mehreren Texten der Morgenröthe zeigen. Die ethno-
logische Ausgangsthese ist das „idealische Götter-Kanibalenthum", wie N. in
der Wilden) das Wort ,Religion' durch ,Aberglaube' ersetzen sollte' [Lubbock
1875, 169]." (Roskoff 1880, 13)
Auch an folgende Ausführungen Roskoffs lehnt sich N. partiell an: „Was
uns verbrecherisch erscheint, das begeht der Wilde ganz unbefangen, und um-
gekehrt hält er für Sünde und Verbrechen, was wir gar nicht beachten würden.
So konnten die mongolischen Kahne das Verbrechen, Eisen ins Feuer zu legen
oder sich auf eine Pritsche zu lehnen, mit dem Tode bestrafen" (Roskoff 1880,
150; Nachweise: Orsucci 1996, 195 f.).
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29, 24 Die gute und die böse Natur.] Zentral in N.s Moralkritik, die alle
moralischen Urteile als bloße „Vorurtheile" entlarvt, sind die Vorstellungen von
„Gut" und „Böse". Hier werden sie durch relativierende Historisierung (29,
24 f.: „Erst haben die Menschen"; 29, 29: „Dann kam einmal eine Zeit") entkräf-
tet. Diese Strategie einer relativierenden und damit alle normative Qualität auf-
hebenden Historisierung ,moralischer' Wertungen verfolgt N. in zahlreichen
Texten der Morgenröthe. Was er über Rousseau und seine Berufung auf eine
„gute Natur" sagt, beschränkt sich allerdings auf die zivilisationskritisch moti-
vierte Tendenz zum Rückzug in die Idylle („Winkel"). Zu N.s Auseinanderset-
zung mit Rousseaus Zivilisationskritik vgl. Μ 163.
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30, 5 Die Moral des freiwilligen Leidens.] Die unter dieser Leitvorstel-
lung stehende Erörterung entwirft eine Genealogie der „Moral" aus dem „Ge-
nuss der Grausamkeit" (30, 10 f.). Es handelt sich um einen Genuss, weil
der Grausame ein „Machtgefühl" (30, 30) verspürt. Dieses erhält in späteren
Aphorismen und in den nachgelassenen Notizen aus dieser Zeit besonderes
Interesse und leitet zum Theorem des „Willens zur Macht" über, das in nachge-
lassenen Notaten aus der Zeit der Morgenröthe schon formuliert wird (NL 1880,
7[206], KSA 9, 360; NL 1880, 9[14], KSA 9, 412). N. greift in M 18 und in einer
Reihe anderer Texte auf ein Werk von Herbert Spencer zurück: Die Thatsachen
der Ethik. Autorisirte deutsche Ausgabe (1879). Zu Spencer und Mill vgl. vor
allem Fornari 2009. In einem Brief vom 28. Dezember 1879 hatte N. seinen Ver-
leger Ernst Schmeitzner um Zusendung von Spencers Werk gebeten, das er
in den folgenden Monaten studierte, wie die Reflexe in den nachgelassenen
Aufzeichnungen und in mehreren Texten der Morgenröthe zeigen. Die ethno-
logische Ausgangsthese ist das „idealische Götter-Kanibalenthum", wie N. in