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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0119
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104 Morgenröthe

nommen. Die Befriedigung, welche die grausamen Götter beim Anschauen von
Qualen empfinden sollten, hat sich grösstentheils in eine Befriedigung verwan-
delt, welche die Gottheit beim Anschauen jener selbstauferlegten Schmerzen
empfinden soll, die, wie man glaubt, die zu erwartende Glückseligkeit fördern
werden". Und Spencer fügt hinzu, „dass von dem Wilden, welcher seine Opfer
einem cannibalischen Gotte hinschlachtet, auch unter den Civilisirten noch
Abkömmlinge vorhanden sind, die glauben, das Menschengeschlecht sei zum
Leiden geschaffen und es sei daher ihre Pflicht, zur Freude ihres Schöpfers das
Leben im Elend fortzusetzen - so können wir einfach die Tatsache constatiren,
dass die Teufelanbeter noch nicht ausgestorben sind" (Spencer 1879, 31 f.).
Spencers Vorstellungen von einem „cannibalischen Gott" und von „Teufelan-
betern" gefielen N. im Zusammenhang seiner Angriffe gegen das Christentum
und seine Moral so gut, dass er sie in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen
notierte, so Anfang 1880: „Die Barbarei im Christenthum. / 2) Überreste der
Teufelsanbetung usw." (1[17], KSA 9, 11) N. folgt Spencer ferner darin, dass
er in den weniger drastischen Formen der Religion in der Moderne noch das
halbbewusste oder unbewusste Fortwirken primitiver Vorstellungen feststellt.
Bei Spencer heißt es: „Durch die Religionen der halbcivilisirten Völker hin-
durch, bei denen diese Auffassung des göttlichen Wesens noch sehr deutlich
hervortritt, hat sich dieselbe unter mit dem weitern Fortschritt immer mehr
abgeänderten Formen bis auf unsere Tage herab erhalten, und immer noch
bedingt sie die Färbung des Glaubens sowohl derer, welche sich dem aner-
kannten Glaubensbekenntniss anschliessen, als derer, welche dasselbe dem
Namen nach verwerfen" (Spencer 1879, 105 f.; Nachweise und eine übergreifen-
de Erörterung der Orientierung N.s an Spencer: Orsucci 1996, 181-189).
Die Herleitung der „Moral" aus einem Gefühl („Genuss der Grausamkeit")
ist für die auf weiten Strecken der Morgenröthe dominierende Methode der Psy-
chologisierung charakteristisch. N. nimmt das Thema der „Grausamkeit", die
zu einer „Tugend" (30, 11) gemacht wird (zur ethnologisch dokumentierten
Bewertung der Grausamkeit als einer Tugend vgl. NK M 112), in M 30 wieder
auf, indem er zur Begründung eine Sublimationstheorie entwirft: Er spricht
von der „verfeinerten Grausamkeit als Tugend" (39, 29) und meint
damit den ,grausamen' Druck, den ein Mensch auf sich selbst ausübt, um sich
auszuzeichnen. In M 18 entwickelt er ein Schema des Übergangs: Auf den sa-
distischen „Genuss" angesichts des durch Grausamkeit verursachten Leidens
anderer Menschen - einen Genuss, der seine psychologische Erklärung in einer
Überkompensation eigener Angst- und Schwächegefühle (30, 15) durch die Er-
fahrung von „Macht" über andere findet - folgt durch die ,moralische' Vorstel-
lung, „dass das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten
Sinn und Werth habe" (30, 19-21), ein Akt masochistischer Introversion. Zur
 
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