106 Morgenröthe
(zu N.s Auseinandersetzung mit dem Epigonentum vgl. NK 1/1, 75, 25-32). N.
projiziert sie auf eine „Moral", die auch von manchen Zeitgenossen, etwa von
Fontane, als überständige gesellschaftliche Konvention dargestellt wurde.
Drastisch bezeichnet N. diese ,moralische' Zeitverfassung als „Schlamm ihrer
Sitten" (31, 8), ja als den „Sumpf" (31, 32), den es nun zu „bewegen" gelte -
eine Anspielung auf ein griechisches Sprichwort, das N. in Der Fall Wagner
ausdrücklich als solches kennzeichnet (KSA 6, 44, 9-11). Als die Bewohner von
Kamarina auf Sizilien das Orakel fragten, ob sie ein sumpfiges Binnengewässer
nahe ihrer Stadt, das den gleichen Namen trug, trockenlegen sollten, gab das
Orakel die Auskunft μή κίνει Καμάριναν, „Rühr Kamarina nicht auf!" Als
Sprichwort ging diese Auskunft in verschiedene Sprichwortsammlungen und
sogar in Vergils Aeneis ein (III, 700 f.). In einem Briefentwurf an Heinrich von
Stein zitiert N. den Orakelspruch im griechischen Wortlaut (KSB 7/KGB III/3,
Nr. 584, S. 28, lf.). N. hält sich aber gerade nicht an den Orakelspruch, sondern
plädiert dafür, den Sumpf zu bewegen. Dies sei die Aufgabe der „geistigen
Führer der Völker" (31, 7), zu denen er sich selbst als Protagonist eines „freien
Denkens" (31, 21) zählt, eines Denkens, das er in der Morgenröthe programma-
tisch zu formulieren unternimmt - allerdings im Anschluss an eine schon vor-
handene Freidenker-Bewegung und auch an schon längst agierende Vorkämp-
fer. Wohin diese Führer führen und wozu die von ihnen in den Schlamm der
Zeit gebrachte „Bewegung" dienen soll, bleibt ungesagt. N. fragte sich selbst
in einem aus dieser Zeit stammenden nachgelassenen Notat, welcher „Tag"
denn auf die Morgenröte folgen solle (NL 1881, 12[162], KSA 9, 604). Im letzten
Text des Werks - „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes" (331, 5) - sus-
pendiert er überhaupt jede Zielvorstellung, indem er die „Bewegung", die nicht
mehr eine am Erdboden haftende oder gar im „Sumpf" zu veranstaltende ist,
als Entschweben in eine leere Unendlichkeit versteht - allein um dieses Ge-
fühls des Schwebens willen.
Umso deutlicher wird der Selbstbezug von N.s Konzept des Märtyrertums.
Hier vollzieht er implizit eine der für ihn auch sonst charakteristischen Selbst-
subversionen. Die „geistigen Führer der Völker", so schreibt er, „haben äusser
dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nöthig gehabt, um Glauben zu fin-
den - und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber!" (31,
7-11) Wiederum nimmt N. hier einen schon in M 14 formulierten Gedanken auf,
wo er in personaler Rede „jene Seufzer der Einsamen und Verstörten" (28, 10 f.)
zum Ausdruck bringt: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahn-
sinn, dass ich [!] endlich an mich [!] selber glaube!" (28, 11-13) Und alsbald
pointiert er: „nur dass ich bei mir selber Glauben finde!" (28, 17) Der Märtyrer
leidet demnach nicht nur unter körperlichen, sondern auch unter geistigen
Martern: an Selbstzweifeln. Doch in paradoxaler Zuspitzung lässt ihn N. gerade
(zu N.s Auseinandersetzung mit dem Epigonentum vgl. NK 1/1, 75, 25-32). N.
projiziert sie auf eine „Moral", die auch von manchen Zeitgenossen, etwa von
Fontane, als überständige gesellschaftliche Konvention dargestellt wurde.
Drastisch bezeichnet N. diese ,moralische' Zeitverfassung als „Schlamm ihrer
Sitten" (31, 8), ja als den „Sumpf" (31, 32), den es nun zu „bewegen" gelte -
eine Anspielung auf ein griechisches Sprichwort, das N. in Der Fall Wagner
ausdrücklich als solches kennzeichnet (KSA 6, 44, 9-11). Als die Bewohner von
Kamarina auf Sizilien das Orakel fragten, ob sie ein sumpfiges Binnengewässer
nahe ihrer Stadt, das den gleichen Namen trug, trockenlegen sollten, gab das
Orakel die Auskunft μή κίνει Καμάριναν, „Rühr Kamarina nicht auf!" Als
Sprichwort ging diese Auskunft in verschiedene Sprichwortsammlungen und
sogar in Vergils Aeneis ein (III, 700 f.). In einem Briefentwurf an Heinrich von
Stein zitiert N. den Orakelspruch im griechischen Wortlaut (KSB 7/KGB III/3,
Nr. 584, S. 28, lf.). N. hält sich aber gerade nicht an den Orakelspruch, sondern
plädiert dafür, den Sumpf zu bewegen. Dies sei die Aufgabe der „geistigen
Führer der Völker" (31, 7), zu denen er sich selbst als Protagonist eines „freien
Denkens" (31, 21) zählt, eines Denkens, das er in der Morgenröthe programma-
tisch zu formulieren unternimmt - allerdings im Anschluss an eine schon vor-
handene Freidenker-Bewegung und auch an schon längst agierende Vorkämp-
fer. Wohin diese Führer führen und wozu die von ihnen in den Schlamm der
Zeit gebrachte „Bewegung" dienen soll, bleibt ungesagt. N. fragte sich selbst
in einem aus dieser Zeit stammenden nachgelassenen Notat, welcher „Tag"
denn auf die Morgenröte folgen solle (NL 1881, 12[162], KSA 9, 604). Im letzten
Text des Werks - „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes" (331, 5) - sus-
pendiert er überhaupt jede Zielvorstellung, indem er die „Bewegung", die nicht
mehr eine am Erdboden haftende oder gar im „Sumpf" zu veranstaltende ist,
als Entschweben in eine leere Unendlichkeit versteht - allein um dieses Ge-
fühls des Schwebens willen.
Umso deutlicher wird der Selbstbezug von N.s Konzept des Märtyrertums.
Hier vollzieht er implizit eine der für ihn auch sonst charakteristischen Selbst-
subversionen. Die „geistigen Führer der Völker", so schreibt er, „haben äusser
dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nöthig gehabt, um Glauben zu fin-
den - und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber!" (31,
7-11) Wiederum nimmt N. hier einen schon in M 14 formulierten Gedanken auf,
wo er in personaler Rede „jene Seufzer der Einsamen und Verstörten" (28, 10 f.)
zum Ausdruck bringt: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahn-
sinn, dass ich [!] endlich an mich [!] selber glaube!" (28, 11-13) Und alsbald
pointiert er: „nur dass ich bei mir selber Glauben finde!" (28, 17) Der Märtyrer
leidet demnach nicht nur unter körperlichen, sondern auch unter geistigen
Martern: an Selbstzweifeln. Doch in paradoxaler Zuspitzung lässt ihn N. gerade