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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0123
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108 Morgenröthe

handelt sich um einen Analogieschluss von zeitgenössischen ethnologischen
Studien über die „Wilden", die noch im Naturzustand leben, auf einen allge-
meinen Urzustand der Menschheit. N. vollzieht eine Umkehrung des Rousseau-
ismus, der den Menschen im Naturzustand als „gut" deklarierte, weil er noch
nicht durch die Zivilisation verdorben gewesen sei. Dagegen erklärt N. mit Be-
rufung auf vorgeschichtliche' Zustände den Naturmenschen, den „Wilden", als
amoralisch, d. h. nach unseren ,moralischen' Wertungen als ,böse'. Er macht
ihn zur Legitimationsinstanz des von ihm selbst vertretenen Immoralismus. N.
hatte bereits im Jahr 1876 notiert: „Vorhistorische Zeitalter werden unermeßli-
che Zeiträume hindurch vom Herkommen bestimmt, es geschieht nichts. In der
historischen Zeit ist jedesmal das Faktum eine Lösung vom Herkommen, eine
Differenz der Meinung, es ist die Freigeisterei, welche die Geschichte
macht" (19[89], KSA 8, 352). Im hier zu erörternden Text versteht N. allerdings
statt des Fortschritts zur „Freigeisterei" (in der von ihm als historisch aufge-
fassten Zeit) gerade umgekehrt die als vorhistorisch aufgefasste Zeit als grund-
legend für die „Weltgeschichte" und weiterhin entscheidend für den „Charak-
ter der Menschheit". Wie schon in einer Reihe früherer Texte steht er auch hier
unter dem Eindruck des Werkes von John Lubbock, der vom Studium ,primiti-
ver' Völker (der „Wilden") Rückschlüsse auf früh- bzw. vorzivilisatorische Sta-
dien überhaupt zieht (NPB; vgl. Μ 16).
19
32, 18 Sittlichkeit und Verdummung.] Hier erörtert N. das Problem, das
später (in den 1930er Jahren von Ernst Bloch) auf die Formel „Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen" gebracht wurde. Die gefühlshafte und das Bewusstsein
immer noch prägende Fixierung auf eine frühere „Sitte" sowie auf entspre-
chende Wertungen bedingt das „Vorurteil", welches das übergeordnete Thema
der Morgenröthe ist. Schon die Vorurteilslehre der Aufklärung im 18. Jahrhun-
dert reflektierte das Zurückbleiben des Gefühls und des Bewusstseins aus Ehr-
furcht vor dem, wie N. sagt, „Alter", der „Heiligkeit" der Sitte, also der schon
in anderen Kurztexten thematisierten Macht des „Herkommens". Speziell der
Dummheit einer fraglosen Fortführung von „Gewohnheiten" hatte bereits Mon-
taigne ein ganzes Kapitel seiner Essais gewidmet (Montaigne 1864, Livre I, Cha-
pitre XXIII) - dieses Kapitel wirkte in einem der markantesten Kurztexte der
Morgenröthe nach (vgl. NK M 111). Die aufklärerische Lehre von den Vorurteilen
statuierte im Hinblick auf die Macht des Herkommens und der Gewohnheit
eine eigene Art des Vorurteils: das „praeiudicium aetatis", das sie als eine Un-
terart des Vorurteils aus Autoritätsgläubigkeit, des „praeiudicium auctoritatis"
auffasste.
 
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