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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0135
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120 Morgenröthe

densten kam sie in einem Brief zum Ausdruck, den N. an die Wagnerianerin
Malwida von Meysenbug am 21. Februar 1883, kurze Zeit nach Wagners Tod,
schrieb: „sein [Wagners] langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Chris-
tenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich
empfunden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, inso-
fern ich einem Geiste, der dieses Schrittes fähig war, gehuldigt hatte. [...]
Jetzt sehe ich jenen Schritt als den Schritt des alt werdenden Wagner an; es
ist schwer zur rechten Zeit zu sterben" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 382).
30
39, 29 Die verfeinerte Grausamkeit als Tugend.] N. greift hier die
bereits in Μ 23 und Μ 26 verwendete Vorstellung der Verfeinerung auf, um
deren Ergebnis, die vermeintliche Moral, auf eine lediglich verfeinerte Grau-
samkeit zurückzuführen, also die Moral genealogisch zu hinterfragen. Die
Rückführung der Moral auf Grausamkeit nimmt ferner Überlegungen aus M 18
auf. In der Schrift Jenseits von Gut und Böse variiert N. das Thema der „verfei-
nerten Grausamkeit", indem er diese nicht mehr lediglich zum Grund der „Mo-
ralität", sondern allgemeiner zum Ursprung der „Cultur" erklärt (Siebentes
Hauptstück: unsere Tugenden, JGB 229): „Fast Alles, was wir ,höhere Cultur'
nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit -
dies ist mein Satz, jenes ,wilde Thier' ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt,
es blüht, es hat sich nur - vergöttlicht" (KSA 5, 166, 4-8). Der im Kommentar
zu M 18 eingehend erörterte sadomasochistische Komplex, der sich im Genuss
der Grausamkeit sowohl gegenüber andern wie gegen sich selbst - durch „frei-
willige Marter" (31, 9) - manifestiert, kehrt in JGB 229 gesteigert wieder. Auf
die Feststellung „Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist
Grausamkeit" (KSA 5, 166, 8 f.) folgt die Diagnose: „es giebt einen reichlichen,
überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-ma-
chen" (166, 24-26), ja es ist die Rede von „jene[n] gefährlichen Schauder[n] der
gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit" (166, 33 f.). Allerdings war die
Berufung auf de Sade - das hatte schon längst der Literaturpapst Sainte-Beuve
festgestellt - ein Modethema der Zeit. Lou von Salome, die N. und sein Werk
sehr gut kannte, bezeichnete ihn als Sadomasochisten (Andreas-Salome 1958,
156).
31
41, 2 Der Stolz auf den Geist.] Mit der Bemerkung, dass der „Stolz des
Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren sträubt und
zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt" (41, 2-4), spielt N. auf Dar-
 
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