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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0148
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 46 133

stellt er ebenfalls im Fall Wagner fest (KSA 6, 44, 17 f.), nachdem der führende
Musikkritiker Eduard Hanslick in der 3. Auflage seines Werks Das Musikalisch-
Schöne Wagners Musik als „das auf 5 Notenlinien verschriebene melodische
Nervenfieber" bezeichnet hatte (vgl. NK KSA 6, 44, 17 f.). In MA I 244 gibt
N. unter dem Leitgedanken „In der Nachbarschaft des Wahnsinns"
eine übergreifende Epochendiagnose: „Die Summe der Empfindungen, Kennt-
nisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass
eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist" (KSA
2, 204, 8-11). Edmond de Goncourt hatte schon im Jahr 1870 an Emile Zola
geschrieben: „Songez que notre oeuvre, et c'est peut-etre son originalite, origi-
nalite durement payee, repose sur la maladie nerveuse" („Bedenken Sie, dass
unser Werk, und das ist vielleicht seine Originalität, eine Originalität, die hart
erkauft ist, auf der Nerven-Krankheit beruht"). Einige Jahre darauf machte
Bourget, der das Zitat überliefert, diese Selbstdiagnose Goncourts zum Be-
standteil einer Epochendiagnose (Bourget 1886, NPB 148 f.). N. orientierte sich
daran in seinen späten Schriften. Er unterstrich in dem Exemplar, das er in
seiner persönlichen Bibliothek hatte, den Passus „maladie nerveuse" (vgl.
Bourget 1886, 168).
Am Schluss von M 39 heißt es im Hinblick auf die „tugendhaften Reingeis-
tigen": „ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel
des Lebens und als den verurtheilenden Maassstab für alles Irdische
nahm" (47, 7-9). Während N. in der Geburt der Tragödie und in UB IV: Richard
Wagner in Bayreuth den dionysischen Rausch, den dionysischen Wahnsinn,
das ekstatische Erlebnis sowie die in der musikalischen Ekstase nach Art der
Mysterien erlebten Einweihungen enthusiastisch beschwört und zugleich das
„Erhabene" als künstlerisches Ideal preist (vgl. den Überblickskommentar zu
GT in NK 1/1, S. 60-62), vollzieht er jetzt eine Kehrtwendung. Die Ekstase ver-
steht er nun als Folge nervöser Überreizung und als krankhafte Manifestation
einer den „Körper" und das „Irdische" missachtenden spiritualistischen Moral.
Indem N. „die Ekstase als das Höheziel des Lebens" für die „Reingeistigen"
bezeichnet und sogar von einem „System" spricht, denkt er sowohl an die sys-
tematische Geist-Philosophie Platons wie an christliche Formen ekstatischer
Erhebung über alles „Irdische", die systematisch erzeugt wurden. Platon ver-
stand in Anlehnung an die Mysterien das in der Ekstase zu erreichende „Höhe-
ziel des Lebens", die Schau der Ideen, als einen Aufstieg zum Reingeistigen.
Er meint damit den ekstatischen Zustand des Philosophen. Im Phaidros (249 c
8-d 3) bezeichnet er ihn als έξιστάμενος τών άνθρωπίνων σπουδασμάτων καί
πρός τω θείω γιγνόμενος, ένθουσιάζων δέ λέληθεν τούς πολλούς (als einen
„ekstatisch sich über die menschlichen Beschäftigungen und zum Göttlichen
Erhebenden, der, wenn er sich im Enthusiasmus befindet, sich der Menge ent-
 
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