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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0151
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136 Morgenröthe

ler, drittens als Philosoph, an dem N. wie schon in GT den Hang zum dialekti-
schen Denken kritisiert (in GT meint er damit Schopenhauers Erzfeind Hegel
und die „Hegelei"); als vierte Spezies des kontemplativen Menschen nennt er
die - von den Philosophen unterschiedenen - „Denker" und Wissenschaftler.
Letztere deklassiert er zu „wissenschaftlichen Arbeitern", obwohl er selbst in
der Morgenröthe sich immer wieder gerade auf die „Wissenschaft" beruft und
sie gegen Religion und Moral ins Feld führt. Immerhin schreibt er der Wissen-
schaft „Nützliches" zu: „Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützli-
ches für Alle geworden" (49, If.). Dass N. „die Denker und die wissenschaftli-
chen Arbeiter" zusammen nennt, entspricht seinem Selbstverständnis. Er will
sich die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiter zwar zunutze machen, sich
aber als „Denker" souverän über diese erheben. Dementsprechend wertet er
dann doch wieder die Wissenschaft und die „wissenschaftlichen Arbeiter" als
letztlich inferior. In einem nachgelassenen Notat nennt er sie abschätzig „Kärr-
ner" (NL 1873, 29[57], KSA 7, 653, 2-5).
Im Frühwerk, vor allem in der Geburt der Tragödie, hatte N. im Gefolge
Wagners die „Wissenschaft" und das Wissen samt den rationalen Fähigkeiten
und Fertigkeiten abgewertet: zugunsten der „Kunst" und aufgrund eines ganz
auf das „Gefühl" festgelegten irrationalistischen Kunstbegriffs. Daher nahmen
Kunst und Künstler für ihn den höchsten Rang ein. Schon in Menschliches,
Allzumenschliches wie dann auch in der Morgenröthe kehrt sich das Verhältnis
von Kunst und Wissenschaft zwar weitgehend um, doch erscheint die Wissen-
schaft angesichts der mit ihr verbundenen Lebensform für viele als „,selbstge-
schaffene Pein'" (49, 8). In den beiden folgenden Texten setzt N. seine kritische
Hinterfragung der vita contemplativa fort. Deren Problematisierung geht im-
mer mehr in eine Selbstreflexion über. Zunächst zählt er sich selbst zu den
„Menschen der vita contemplativa" (48, 3 f.), indem er „wir" sagt. In M 440
wertet er die vita contemplativa positiv, weil sie für den Denker notwendig ist.
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49, 10 Herkunft der vita contemplativa.] Auch hier wertet N. die vita
contemplativa gegenüber der vita activa ab: Er interpretiert sie als dekadenten
Ausdruck einer müde gewordenen, kranken und übersättigten (49, 17 f.) Men-
schenart, die nicht mehr zur vita activa fähig sei: zur „Action" (49, 14) und zu
einer von „Kraft" erfüllten Bereitschaft selbst zu „Raub" und „Mord" (49, 14 f.).
Eine solche vita activa wurde im zeitgenössischen Renaissancekult ästhetizis-
tisch verherrlicht, insbesondere im Hinblick auf das große, kraftvolle Individu-
um. Bezeichnenderweise hebt N. schon im ersten Satz den „Einzelne[n] im Ge-
fühle seiner vollen Kraft" (9, 12) heraus. Dass dennoch in alter Zeit und lange
 
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