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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0190
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 83-84 175

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83, 20 Egoismus gegen Egoismus.] Der erste Satz enthält in dem in
Klammer stehenden Zusatz „in den Kreisen der Idealisten" einen halbverdeck-
ten Hinweis auf Malwida von Meysenbug, eine N. freundschaftlich protegieren-
de Dame, die großen Erfolg mit ihrem dreibändigen Werk Memoiren einer Idea-
listin hatte. N. besaß es in der Ausgabe von 1876 in seiner persönlichen Biblio-
thek. Ein nachgelassenes Notat (NL 1880, 4[57], KSA 9, 113), das die Vorstufe
zu diesem Text bildet, weist noch direkt auf Malwida von Meysenbug sowie
zuvor schon auf Luther und Thomas von Aquino hin, zu denen N. dort an-
merkt: „Beide meinen es müsse einen Gott geben, weil die Menschen ihn nö-
thig haben. So auch Fräulein v<on> M<eysenbug>, es wäre das Leben nicht
auszuhalten, wenn alles nur eine letzte physische Bedeutung hätte". Für seine
Hinweise auf Luther und Thomas von Aquino beruft sich N. auf „(Baum<ann>
243"). Es handelt sich um eine seiner Quellen auch für andere Teile der Mor-
genröthe, das Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie von Jo-
hann Julius Baumann. Dort stehen die von N. aufgegriffenen Sätze in lateini-
schen Originalzitaten: „Thomas Aquinas spricht sich Summa theologica Sec.
Secundae qu. 85, art. 1 10 aus: naturalis ratio dictat homini, quod alicui supe-
riori subdatur propter defectus, quos in se ipso sentit, in quibus ab aliquo su-
periori eget adjuvari et dirigi; et quidquid illud sit, hoc est quod apud omnes
dicitur deus. Luther schreibt catechismus major P. I decem praecepta (Meyer,
S. 249): quod deum habere nihil aliud sit quam habere aliquid, cui cor huma-
num per omnia fidere soleat; -gentilium quoque opinione deum habere
nihil aliud est quam fidere et credere" (Baumann 1879, 243).

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84, 5 Die Redlichkeit Gottes.] N. verknüpft in diesem Text das Problem
einer sich entziehenden Wahrheit mit der ironischen Frage nach Gott, der so-
wohl zur Wahrheit wie auch zur Mitteilung der Wahrheit verpflichtet sein soll-
te, statt die Menschen „zahllosen Zweifeln" (84, 8) auszusetzen und sie mit
„vieldeutigen Zeichen" (84, 23 f.) im Stich zu lassen. Vor dem Hintergrund die-
ser Vorüberlegung, die - in einem subversiv variierenden Rückgriff auf die Tra-
dition der Theodizee-Problematik - auf die Pointe einer „Unmoralität" Gottes
(85, 11) zuläuft und damit die „Moral" selbst aus den Angeln heben soll, wen-
det sich N. abschließend Pascals besonderem Interesse am Theologumenon
vom „verborgenen Gott" (85, 5) zu, den er mit dem traditionellen Terminus
„deus absconditus" (85, 11) nennt. N. besaß in seiner persönlichen Bibliothek
folgende deutsche Übersetzung von Pascals Pensees: Blaise Pascal: Gedanken,
 
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