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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0203
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188 Morgenröthe

Durch die Berufung auf Gott beanspruchen sie unbedingte Legitimation und
„Autorität". N. greift in der Tradition der aufklärerischen Autoritätskritik und
des Freidenkertums (vgl. den Kommentar zu 32, 28) diese „Autorität der Moral"
(94, 26) an, indem er feststellt: „Diese Autorität der Moral unterbindet das Den-
ken" (94, 29 f.). Die Frage „wozu soll ich handeln?" (95, 9) erörtert N. in einem
nachgelassenen Notat vom Sommer 1880 im Sinne seines strikten Individualis-
mus: „Alle bisherigen Moralen gehen von dem Vorurtheil aus, daß man wüßte,
wozu der Mensch da sei: also sein Ideal kenne. Jetzt weiß man, daß es viele
Ideale giebt: die Consequenz ist der Individualismus des Ideals, die Leugnung
einer allgemeinen Moral" (4[79], KSA 9, 119, 24-28).

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95, 22 Einige Thesen.) Hierzu die Analyse im Kommentar zu 92, 27 und 93,
21 f. Der auf das „Individuum" bezogenen Vorstellung von dessen „eigenen,
Jedermann unbekannten Gesetzen" entspricht ein nachgelassenes Notat (NL
1880, 7[54], KSA 9, 328, 9 f.): „meistens ist wohl das Individuum unerkennbar
und ineffabile". Hier nimmt N. eine vielzitierte Äußerung Goethes aus seinem
Brief an Lavater vom 20. 9. 1780 auf: „Habe ich Dir das Wort Individuum est
ineffabile woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben"? N.s Aussagen über
den Egoismus sind immer auch vor dem Hintergrund von Schopenhauers Preis-
schrift über die Grundlage der Moral zu sehen. Dort gilt der ganze § 14 dem
Thema des Egoismus. Schopenhauer, der auf nicht-egoistische, „moralische"
Handlungen zielt, diese aber in Korrelation zu den „antimoralischen Triebfe-
dern" erörtert, beginnt seine Darstellung mit der folgenden allgemeinen Defini-
tion des Egoismus: „Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen, wie im
Thiere, ist der Egoismus, d. h. der Drang zum Daseyn und Wohlseyn. - Das
deutsche Wort Selbstsucht führt einen falschen Nebenbegriff von Krank-
heit mit sich. Das Wort Eigennutz aber bezeichnet den Egoismus, sofern er
unter Leitung der Vernunft steht, welche ihn befähigt, vermöge der Reflexion,
seine Zwecke planmäßig zu verfolgen; daher man die Thiere wohl egois-
tisch, aber nicht eigennützig nennen kann. Ich will also für den allgemeinem
Begriff das Wort Egoismus beibehalten. - Dieser Egoismus ist, im Thiere,
wie im Menschen, mit dem innersten Kern und Wesen desselben aufs genaues-
te verknüpft, ja, eigentlich identisch. Daher entspringen, in der Regel, alle sei-
ne Handlungen aus dem Egoismus, und aus diesem zunächst ist allemal die
Erklärung einer gegebenen Handlung zu versuchen [...] Der Egoismus ist, sei-
ner Natur nach, gränzenlos" (Schriften zur Naturphilosophie und Ethik, Scho-
penhauer 1874, Bd. 4, 196).
 
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