196 Morgenröthe
Wie Schopenhauer sich immer wieder auf Zeugnisse beruft, welche die
desillusionierende wahre Erkenntnis des Daseins und die trostlose Situation
des Menschen belegen sollen, so verfährt auch N. - allerdings mit umgekehr-
ten Vorzeichen. Er wählt den Moment intensiven Leidens, in dem der „Schlei-
er" endgültig zerreiße. Seine Beispiele sind die Worte des gekreuzigten Chris-
tus vor seinem Tode: ,„mein Gott, warum hast du mich verlassen!"' (105, 13)
Diese Worte der Evangelien (Markus 15, 34; Matthäus 27, 46) zitieren das Alte
Testament: den 22. Psalm, der mit dem (in den Karfreitagsritus eingegangenen)
Ausruf beginnt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Das
zweite Beispiel ist Don Quixote, der im gleichnamigen Roman des Cervantes
am Ende auf dem Sterbebett alle durch die übermäßige Lektüre von Ritterro-
manen entstandenen Illusionen abstreift und erst dadurch zur Realität und zu
sich selbst findet, auch wenn die Illusionen schön und edel waren. N. spielt
darauf indirekt an, indem er von den „edelsten und geliebtesten Illusionen"
spricht (105, 27 f.).
115
107, 9 Das sogenannte „Ich".] In diesem und im nächsten Text bewegt
sich N. im Kontext der damals aktuellen antiidealistischen Demontage des
„Ichs" und des „Subjects" (vgl. GD, KSA 6, 91, 7-9; IGB, KSA 5, 27, 16; NL 1888,
14[113], KSA 13, 290) mit der Absicht, auch dadurch der „Moral" den Boden zu
entziehen. Denn wenn das Ich naturalistisch auf „Vorgänge und Triebe" (107,
13) sowie auf bloße „Zustände" (107, 19; 107, 31) zu reduzieren ist, dann kann
es auch nicht moralisch verantwortlich gemacht werden; vor allem braucht es
sich dann selbst nicht moralisch verantwortlich zu fühlen. Mit einem sprach-
kritischen Ansatz, der die Sprache, insbesondere die Begriffe, die wir von uns
und unseren Zuständen bilden, als realitätsfremde Fiktionen und deshalb als
„Vorurtheile" (107, 9 f.) versteht, schließt N. wieder an das im Untertitel der
Morgenröthe formulierte Programm an: „Gedanken über die moralischen Vor-
urtheile". Allerdings gerät er mit seiner Demontage des „Ichs" und des „Sub-
jects" in Widerspruch zu seiner in mehreren vorangehenden Texten (Μ 104;
M 105; M 107; M 108) als zentrales Anliegen dargestellten Wertschätzung des
„Eigenen", des „ego" und des „Individuellen".
116
108, 10 Die unbekannte Welt des „Subjects".] N. setzt seinen in M 115
begonnenen Versuch fort, die Moral zu untergraben, indem er das „Subject"
Wie Schopenhauer sich immer wieder auf Zeugnisse beruft, welche die
desillusionierende wahre Erkenntnis des Daseins und die trostlose Situation
des Menschen belegen sollen, so verfährt auch N. - allerdings mit umgekehr-
ten Vorzeichen. Er wählt den Moment intensiven Leidens, in dem der „Schlei-
er" endgültig zerreiße. Seine Beispiele sind die Worte des gekreuzigten Chris-
tus vor seinem Tode: ,„mein Gott, warum hast du mich verlassen!"' (105, 13)
Diese Worte der Evangelien (Markus 15, 34; Matthäus 27, 46) zitieren das Alte
Testament: den 22. Psalm, der mit dem (in den Karfreitagsritus eingegangenen)
Ausruf beginnt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Das
zweite Beispiel ist Don Quixote, der im gleichnamigen Roman des Cervantes
am Ende auf dem Sterbebett alle durch die übermäßige Lektüre von Ritterro-
manen entstandenen Illusionen abstreift und erst dadurch zur Realität und zu
sich selbst findet, auch wenn die Illusionen schön und edel waren. N. spielt
darauf indirekt an, indem er von den „edelsten und geliebtesten Illusionen"
spricht (105, 27 f.).
115
107, 9 Das sogenannte „Ich".] In diesem und im nächsten Text bewegt
sich N. im Kontext der damals aktuellen antiidealistischen Demontage des
„Ichs" und des „Subjects" (vgl. GD, KSA 6, 91, 7-9; IGB, KSA 5, 27, 16; NL 1888,
14[113], KSA 13, 290) mit der Absicht, auch dadurch der „Moral" den Boden zu
entziehen. Denn wenn das Ich naturalistisch auf „Vorgänge und Triebe" (107,
13) sowie auf bloße „Zustände" (107, 19; 107, 31) zu reduzieren ist, dann kann
es auch nicht moralisch verantwortlich gemacht werden; vor allem braucht es
sich dann selbst nicht moralisch verantwortlich zu fühlen. Mit einem sprach-
kritischen Ansatz, der die Sprache, insbesondere die Begriffe, die wir von uns
und unseren Zuständen bilden, als realitätsfremde Fiktionen und deshalb als
„Vorurtheile" (107, 9 f.) versteht, schließt N. wieder an das im Untertitel der
Morgenröthe formulierte Programm an: „Gedanken über die moralischen Vor-
urtheile". Allerdings gerät er mit seiner Demontage des „Ichs" und des „Sub-
jects" in Widerspruch zu seiner in mehreren vorangehenden Texten (Μ 104;
M 105; M 107; M 108) als zentrales Anliegen dargestellten Wertschätzung des
„Eigenen", des „ego" und des „Individuellen".
116
108, 10 Die unbekannte Welt des „Subjects".] N. setzt seinen in M 115
begonnenen Versuch fort, die Moral zu untergraben, indem er das „Subject"