Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 115 201
hung des Auges gewesen ist"; 115, 24 f.). In einem nachgelassenen Notat vom
Sommer 1880 zitiert N. aus seiner Quelle: Karl Semper: Die natürlichen Exis-
tenzbedingungen der Thiere (1880) folgende Worte ,„Das Auge kann nie durch
das Sehen hervorgerufen worden sein'. Semper. NB" (4[95], KSA 9, 123; vgl.
Semper 1880, Bd. 1., 122). Indem N. aber meint, „der Zufall" (115, 26) habe
den „Apparat" (das Seh-Organ) zusammengebracht, versteht er die Evolutions-
lehre ungenau. In der nachfolgenden M 123 weitet er die Vorstellung eines der-
artigen „Zufalls" noch aus, indem er sogar die Entstehung der „Vernunft" auf
einen Zufall zurückführen will.
N.s Missverständnis geht darauf zurück, dass Darwin in seinem Werk Über
die Entstehung der Arten (The Origin of Species) zunächst (!) vom „Zufall"
(„chance") gesprochen hatte. Im Schlusswort des deutschen Übersetzers Hein-
rich Georg Bronn heißt es: „Je mehr ein Naturforscher sich mit Detail-Studien
über den Bau der natürlichen Wesen und über dessen wunderbare Zweckmä-
ßigkeit [...] beschäftigt hat, umso schwerer wird es ihm anfangs werden, darin
nichts weiteres als die Folgen eines fortschreitenden Verbesserungs-Prozesses
zu sehen, worin jeder weitre Fortschritt nach des Vfs. Theorie jedesmal nur ein
Zufall ist und erst durch Vererbung festgehalten werden kann. Doch darf man
darin noch kein unbedingtes Hinderniss für diese Theorie erblicken". Darwin
selbst schränkt seinen Begriff des „Zufalls" in mehrfacher Hinsicht ein: im Zu-
sammenhang mit der von ihm angenommenen Entstehung der Arten aufgrund
natürlicher Selektion („by means of natural selection"), insbesondere der ge-
schlechtlich gesteuerten Auswahl des Partners („selection in relation to sex")
sowie aufgrund einer Anpassung an vielfältige Umweltbedingungen wie Klima
und Lebensräume und schließlich aufgrund der von Malthus konstatierten
Über-Population in Relation zu den vorhandenen natürlichen Ressourcen, die
zum „Kampf ums Dasein" führt („preservation of favoured races in the struggle
for life"). Die aus diesen multifaktoriellen Konstellationen folgende Neukodie-
rung des Zufallsbegriffs (nämlich im Hinblick auf Bedingungen, die auf uner-
klärliche Weise besondere Geltung erlangen) führt Darwin dazu, dass er die
Verwendung des traditionellen Zufallsbegriffs ablehnt und seine eigene Rede
vom „Zufall" in einem „als ob"-Modus vorträgt: „Ich habe bisher von den Ab-
änderungen [d. h. von der Varietät der Arten] - die so gemein und manchfaltig
im Kultur-Stande der Organismen und in etwas minderem Grade häufig in der
freien Natur sind - zuweilen so gesprochen, als ob [!] dieselben vom Zufall
veranlasst wären. Diess ist aber eine ganz unrichtige Ausdrucks-Weise [!], wel-
che nur geeignet ist unsre gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder be-
sonderen Abweichung zu beurkunden." (Darwin 1860 [2008], 142.) Darwins
Formulierungen am Anfang des fünften Kapitels seines Buchs lauten in der
englischen Originalausgabe: „I have hitherto sometimes spoken as if the varia-
tions - so common and multiform with organic beings under domestication,
hung des Auges gewesen ist"; 115, 24 f.). In einem nachgelassenen Notat vom
Sommer 1880 zitiert N. aus seiner Quelle: Karl Semper: Die natürlichen Exis-
tenzbedingungen der Thiere (1880) folgende Worte ,„Das Auge kann nie durch
das Sehen hervorgerufen worden sein'. Semper. NB" (4[95], KSA 9, 123; vgl.
Semper 1880, Bd. 1., 122). Indem N. aber meint, „der Zufall" (115, 26) habe
den „Apparat" (das Seh-Organ) zusammengebracht, versteht er die Evolutions-
lehre ungenau. In der nachfolgenden M 123 weitet er die Vorstellung eines der-
artigen „Zufalls" noch aus, indem er sogar die Entstehung der „Vernunft" auf
einen Zufall zurückführen will.
N.s Missverständnis geht darauf zurück, dass Darwin in seinem Werk Über
die Entstehung der Arten (The Origin of Species) zunächst (!) vom „Zufall"
(„chance") gesprochen hatte. Im Schlusswort des deutschen Übersetzers Hein-
rich Georg Bronn heißt es: „Je mehr ein Naturforscher sich mit Detail-Studien
über den Bau der natürlichen Wesen und über dessen wunderbare Zweckmä-
ßigkeit [...] beschäftigt hat, umso schwerer wird es ihm anfangs werden, darin
nichts weiteres als die Folgen eines fortschreitenden Verbesserungs-Prozesses
zu sehen, worin jeder weitre Fortschritt nach des Vfs. Theorie jedesmal nur ein
Zufall ist und erst durch Vererbung festgehalten werden kann. Doch darf man
darin noch kein unbedingtes Hinderniss für diese Theorie erblicken". Darwin
selbst schränkt seinen Begriff des „Zufalls" in mehrfacher Hinsicht ein: im Zu-
sammenhang mit der von ihm angenommenen Entstehung der Arten aufgrund
natürlicher Selektion („by means of natural selection"), insbesondere der ge-
schlechtlich gesteuerten Auswahl des Partners („selection in relation to sex")
sowie aufgrund einer Anpassung an vielfältige Umweltbedingungen wie Klima
und Lebensräume und schließlich aufgrund der von Malthus konstatierten
Über-Population in Relation zu den vorhandenen natürlichen Ressourcen, die
zum „Kampf ums Dasein" führt („preservation of favoured races in the struggle
for life"). Die aus diesen multifaktoriellen Konstellationen folgende Neukodie-
rung des Zufallsbegriffs (nämlich im Hinblick auf Bedingungen, die auf uner-
klärliche Weise besondere Geltung erlangen) führt Darwin dazu, dass er die
Verwendung des traditionellen Zufallsbegriffs ablehnt und seine eigene Rede
vom „Zufall" in einem „als ob"-Modus vorträgt: „Ich habe bisher von den Ab-
änderungen [d. h. von der Varietät der Arten] - die so gemein und manchfaltig
im Kultur-Stande der Organismen und in etwas minderem Grade häufig in der
freien Natur sind - zuweilen so gesprochen, als ob [!] dieselben vom Zufall
veranlasst wären. Diess ist aber eine ganz unrichtige Ausdrucks-Weise [!], wel-
che nur geeignet ist unsre gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder be-
sonderen Abweichung zu beurkunden." (Darwin 1860 [2008], 142.) Darwins
Formulierungen am Anfang des fünften Kapitels seines Buchs lauten in der
englischen Originalausgabe: „I have hitherto sometimes spoken as if the varia-
tions - so common and multiform with organic beings under domestication,