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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0221
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206 Morgenröthe

Handelns im Unbewussten, also jenseits der moralischen Zurechenbarkeit an-
gesetzt. „Sogar sind wir oft über das eigentliche Motiv", schreibt Schopenhau-
er, „aus dem wir etwas thun oder unterlassen, ganz im Irrthum, - bis etwan
endlich ein Zufall uns das Geheimniß aufdeckt und wir erkennen, daß was wir
für das Motiv gehalten, es nicht war, sondern ein anderes, welches wir uns
nicht hatten eingestehn wollen, weil es der guten Meinung, die wir von uns
selbst hegen, keineswegs entspricht. Z. B. wir unterlassen etwas, aus rein mo-
ralischen Gründen, wie wir glauben; erfahren jedoch hinterher, daß bloß die
Furcht uns abhielt, indem wir es thun, sobald alle Gefahr beseitigt ist. In ein-
zelnen Fällen kann es hiemit so weit gehen, daß ein Mensch das eigentliche
Motiv seiner Handlung nicht ein Mal muthmaaßt, ja, durch ein solches bewo-
gen zu werden sich nicht für fähig hält: dennoch ist es das eigentliche Motiv
seiner Handlung. - Beiläufig haben wir an allem Diesen eine Bestätigung und
Erläuterung der Regel des Larochefoucauld: l'amour-propre est le plus habile
homme du monde; ja, sogar einen Kommentar zum Delphischen γνωθι σαυτον
[Schopenhauer setzt keine Akzente] und dessen Schwierigkeit. - Wenn nun
hingegen, wie alle Philosophen wähnten, der Intellekt unser eigentliches We-
sen ausmachte und die Willensbeschlüsse ein bloßes Ergebniß der Erkenntniß
wären; so müßte für unsern moralischen Werth gerade nur das Motiv, aus wel-
chem wir zu handeln wähnen, entscheidend seyn" (Zweites Buch, Kapitel 19;
Schopenhauer 1873, Bd. 3, 235).
Indem sich N. auf „unbewusste Vorgänge" (119, 30 f.) in der Sphäre der
irrtümlich als durchgängig bewusst aufgefassten Motive beruft und obendrein
das Unberechenbare und daher nicht Zurechnungsfähige bei der Entstehung
von Handlungen ins Spiel bringt (119, 12-15: „Erregung der Phantasie [...] Kör-
perliches [...] die Laune [...] der Sprung irgend eines Affectes"), versucht er
jedwede ,moralische' Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen
aufzuheben. Besonders hebt er die unentwirrbare Vielzahl z. T. unbewusster
Motive hervor, die am Zustandekommen einer Handlung beteiligt sind und die
eigentlich (entgegen der landläufigen Meinung, die nur auf die bewussten Mo-
tive ziele) als „Kampf der Motive" (118, 15) erscheinen. Paul Ree hatte in den
von N. studierten Psychologischen Beobachtungen (Ree 1875, 19) konstatiert:
„Jeder Handlung liegt ein Mosaik von Motiven zu Grunde, ohne daß wir zu
erkennen vermöchten, aus wieviel Egoismus, Eitelkeit, Stolz, Furcht, Nächs-
tenliebe etc. es zusammengesetzt ist. Der Philosoph kann nicht wie der Chemi-
ker eine qualitative und quantitative Analyse zur Anwendung bringen". Ganz
ähnlich formuliert bereits Helvetius in seinem Werk De l'esprit, dessen deut-
sche Übersetzung N. in seiner persönlichen Bibliothek hatte und den Lesespu-
ren und auch einer Reihe von nachgelassenen Notaten zufolge studierte: Clau-
de Adrien Helvetius: Diseurs über den Geist des Menschen (1760).
 
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