Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 120 207
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120, 4 Zwecke? Willen?) Hier beruft sich N. mehrmals auf das jeder morali-
schen Verantwortlichkeit enthebende Schicksal: auf die griechisch-archaische
Vorstellung der Moira (120, 26; 121, 16), die alles, ja sogar die Götter in ihrer
Gewalt hat. Verstärkend spricht er von den „eisernen Händen der Nothwendig-
keit" (122, 8 f.), der er auch den scheinbar konträren Bereich der „Zufälle" zu-
ordnet, indem er die eisernen Hände der Notwendigkeit „den Würfelbecher des
Zufalls schütteln" lässt (122, 9 f.). Das entspricht der spannungsreichen Kon-
stellation von Fatum und Fortuna, die seit Ciceros Schrift De divinatione im Hin-
blick auf Freiräume menschlichen Handelns zur Debatte stand. In diesem Zu-
sammenhang ist auch das mehrfach gebrauchte Bild vom Ziegelstein, der vom
Dach herabfällt, zu verstehen (120, ll f.; 121, 28 f.; 122, 3). N. spielt damit auf
eine Stelle in Schopenhauers Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes
vom zureichenden Grunde an: In § 23 „Bestreitung des von Kant aufgestellten
Beweises ..." bedient sich Schopenhauer dieses Bildes, um zu zeigen, dass das,
was man landläufig Zufall nennt, „dem Gesetz der Kausalität keinen Abbruch"
tue: „Das Aufeinanderfolgen in der Zeit von Begebenheiten, die nicht in Kau-
salverbindung stehen, ist eben das, was man Zufall nennt [...] Ich trete vor die
Hausthür, und darauf fällt ein Ziegel vom Dach, der mich trifft; so ist zwischen
dem Fallen des Ziegels und meinem Heraustreten keine Kausalverbindung,
aber dennoch die Sukzession, dass mein Heraustreten dem Fallen des Ziegels
vorherging, in meiner Apprehension objektiv bestimmt und nicht subjektiv
durch meine Willkür, die sonst wohl die Sukzession umgekehrt haben würde".
Bereits Spinoza hatte das Problem von Zufall und Kausalität am Beispiel des
vom Dach fallenden Ziegelsteins erörtert (Ethik, Propositio I-XXXVI, Appen-
dix). An diese Verknüpfung von Zufall und Kausalität schließt N. an, indem er
den „Glauben an die zwei Reiche" als „eine uralte [...] Fabel" abtut.
In diesem Kontext fällt auch der mehrmals exponierte Begriff des „Spiels"
auf. Von den eisernen Händen der Notwendigkeit heißt es mit einer pointieren-
den figura etymologica (122, 10): Sie „spielen ihr Spiel unendliche Zeit". N.
ruft hier ein Fragment seines Lieblingsphilosophen Heraklit auf, welches die
Vorstellung des Spiels gerade mit der „Zeit" verbindet, die für Heraklit - anders
als die chronologisch beschränkte und insofern endliche Zeit - die „Weltzeit"
ist. N. nennt sie deshalb „unendlich". Heraklits Fragment lautet (Diels/Kranz
22 B 52): „Der Aion [die Weltzeit in ihrer ewigen Dauer] ist ein Kind, das spielt,
hin und her die Brettsteine setzt: eines Kindes Königreich" (αιών παΐς έστι
παίζων, πεσσεύων· παιδός ή βασιληίη). Schon in der Geburt der Tragödie griff
N. auf dieses Fragment zurück, indem er es zu einem „dionysischen Phäno-
men" umdeutete, „das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen
und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart,
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120, 4 Zwecke? Willen?) Hier beruft sich N. mehrmals auf das jeder morali-
schen Verantwortlichkeit enthebende Schicksal: auf die griechisch-archaische
Vorstellung der Moira (120, 26; 121, 16), die alles, ja sogar die Götter in ihrer
Gewalt hat. Verstärkend spricht er von den „eisernen Händen der Nothwendig-
keit" (122, 8 f.), der er auch den scheinbar konträren Bereich der „Zufälle" zu-
ordnet, indem er die eisernen Hände der Notwendigkeit „den Würfelbecher des
Zufalls schütteln" lässt (122, 9 f.). Das entspricht der spannungsreichen Kon-
stellation von Fatum und Fortuna, die seit Ciceros Schrift De divinatione im Hin-
blick auf Freiräume menschlichen Handelns zur Debatte stand. In diesem Zu-
sammenhang ist auch das mehrfach gebrauchte Bild vom Ziegelstein, der vom
Dach herabfällt, zu verstehen (120, ll f.; 121, 28 f.; 122, 3). N. spielt damit auf
eine Stelle in Schopenhauers Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes
vom zureichenden Grunde an: In § 23 „Bestreitung des von Kant aufgestellten
Beweises ..." bedient sich Schopenhauer dieses Bildes, um zu zeigen, dass das,
was man landläufig Zufall nennt, „dem Gesetz der Kausalität keinen Abbruch"
tue: „Das Aufeinanderfolgen in der Zeit von Begebenheiten, die nicht in Kau-
salverbindung stehen, ist eben das, was man Zufall nennt [...] Ich trete vor die
Hausthür, und darauf fällt ein Ziegel vom Dach, der mich trifft; so ist zwischen
dem Fallen des Ziegels und meinem Heraustreten keine Kausalverbindung,
aber dennoch die Sukzession, dass mein Heraustreten dem Fallen des Ziegels
vorherging, in meiner Apprehension objektiv bestimmt und nicht subjektiv
durch meine Willkür, die sonst wohl die Sukzession umgekehrt haben würde".
Bereits Spinoza hatte das Problem von Zufall und Kausalität am Beispiel des
vom Dach fallenden Ziegelsteins erörtert (Ethik, Propositio I-XXXVI, Appen-
dix). An diese Verknüpfung von Zufall und Kausalität schließt N. an, indem er
den „Glauben an die zwei Reiche" als „eine uralte [...] Fabel" abtut.
In diesem Kontext fällt auch der mehrmals exponierte Begriff des „Spiels"
auf. Von den eisernen Händen der Notwendigkeit heißt es mit einer pointieren-
den figura etymologica (122, 10): Sie „spielen ihr Spiel unendliche Zeit". N.
ruft hier ein Fragment seines Lieblingsphilosophen Heraklit auf, welches die
Vorstellung des Spiels gerade mit der „Zeit" verbindet, die für Heraklit - anders
als die chronologisch beschränkte und insofern endliche Zeit - die „Weltzeit"
ist. N. nennt sie deshalb „unendlich". Heraklits Fragment lautet (Diels/Kranz
22 B 52): „Der Aion [die Weltzeit in ihrer ewigen Dauer] ist ein Kind, das spielt,
hin und her die Brettsteine setzt: eines Kindes Königreich" (αιών παΐς έστι
παίζων, πεσσεύων· παιδός ή βασιληίη). Schon in der Geburt der Tragödie griff
N. auf dieses Fragment zurück, indem er es zu einem „dionysischen Phäno-
men" umdeutete, „das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen
und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart,