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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0233
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218 Morgenröthe

den Genuss der eigenen Macht, den „wir als die Mächtigeren" (126, 4) haben,
oder sogar die „Lust" (126, 17), die wir bei einer mitleidigen Handlung emp-
finden. Diese psychologisierende Überdehnung des Motivations-Spektrums un-
terhalb der Schwelle des Bewusstseins soll den Begriff des Mitleids und insbe-
sondere dessen Festlegung auf die Moral umfassend suspendieren.
Die Attacke richtet sich wieder gegen Schopenhauer, der das Mitleid zur
Grundlage der Moral erklärt hatte - vgl. das exemplarisch angeführte Schopen-
hauer-Zitat im Kommentar zu M 132. Bei seinem Angriff auf Schopenhauer
konstatiert N., dieser habe mit seiner Begründung der Moral durch das Mitleid
„uns damit zum Glauben an seine grosse Neuigkeit bringen" wollen (127, 2 f.)
und dem Mitleid die moralische Qualität „erst angedichtet" (127, 7). Dies
trifft nicht zu, denn trotz aller Emphase, mit der Schopenhauer die Mitleidsmo-
ral im Kontext seiner Leidens-Ontologie ausstattet, erhebt er keineswegs den
Anspruch auf eine „grosse Neuigkeit". Es konnte eine solche Neuigkeit gar
nicht geben: Schon Rousseau hatte in seinem Discours sur l'Origine de l'Inegali-
te parmi les Hommes, wenn auch noch nicht unter den pessimistischen Prämis-
sen der Schopenhauer'schen Willens-Metaphysik, die Moral mit fundamenta-
len Argumenten auf das Mitleid gegründet. Vgl. das Rousseau-Zitat im Kom-
mentar zu M 132. Abschließend führt N. sowohl den „stoischen Gleichmuth"
(Ataraxie), der sich zum Selbstschutz gegen den Affekt des Mitleids abschottet,
wie andererseits das Verhalten der Mitleidigen, die sich Letzterem hingeben,
auf eine jeweils andere Art des Egoismus zurück (127, 19-25). Mit dieser wieder
an La Rochefoucauld orientierten Interpretation versucht er die Antwort auf
die zuvor gestellte rhetorische Frage zu geben: „Was unterscheidet schliesslich
die Menschen ohne Mitleid von den mitleidigen?" (127, 8 f.) Die Vorstellung, es
handle sich bei der Wertschätzung des Mitleids bloß um eine „moralische
Mode" (127, 26 f.), die sich mithin auch wieder ändern kann, war schon das
Leitthema von M 131.

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127, 30 f. In wie fern man sich vor dem Mitleiden zu hüten hat.]
Hier konzentriert sich N. ganz auf den schon in der älteren Stoa dominierenden
Gesichtspunkt, dass das „Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft" (127,
31 f.), zu einem schädlichen Affekt zu werden droht, der das stoische Ideal der
Gemütsruhe (Ataraxie, tranquillitas animi) zunichte macht. Auch wenn N. die-
ses Ideal nicht aufstellt, adaptiert er doch die stoische Ablehnung des Mitleids.
Immer wieder ist in der Stoa von Krankheiten der Seele die Rede, die durch
den stoischen Philosophen als Arzt der Seele (ιατρός τής ψυχής) kuriert werden
 
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