Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0238
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 129-132 223

Paralipomena hatte Schopenhauer den Stoizismus teils als „praktische Philoso-
phie" dargestellt und mit Einschränkungen auch anerkannt, teils denselben
im Anschluss an die seit der Antike häufig geübte Kritik als lebensfremd oder
als heuchlerisch charakterisiert. Unter Angabe der von ihm herangezogenen
Philosophiegeschichten legte er sogar Sammlungen von einschlägigen Origi-
nalzitaten der Stoiker an. N. konnte sich schon aus diesem Fundus bedienen,
ebenso aus den Darstellungen der stoischen Lehren in den von ihm benutzten
zeitgenössischen Philosophiegeschichten, die er aber nicht nennt. Auch war er
aus seinen frühen philologischen Studien zum Werk des Diogenes Laertius (Le-
ben und Meinungen der Philosophen) mit dessen Darstellung der stoischen
Schule und ihrer Lehren gut vertraut.

140
131, 28 Loben und Tadeln.] Dieses Thema, das in einem inneren Zusam-
menhang mit der übergeordneten Problematik der moralischen (Vor-)Urteile
steht, ist schon in der moralistischen Tradition von Belang, so bei La Rochefou-
cauld. N. allerdings psychologisiert Lob und Tadel, um beide Phänomene auf
das bereits in früheren Texten der Morgenröthe exponierte „Machtgefühl"
(132, 3) (analog 132, 13: „Gefühl der Macht"; 132, 9: „Gefühl der Stärke") zu
beziehen. Zu diesem auch in späteren Texten der Morgenröthe weiterverfolgten
Interesse an der „Macht" sowie den zahlreichen nachgelassenen Notaten hier-
zu vgl. S. 30 f. und S. 42.

141
132, 26 Schöner, aber weniger werth.] N. verwendet hier Begriffe, die
er gerne auf Wagners Musik münzt. Insbesondere die Rede von den „patheti-
schen, eindringlichen, furchtbaren, feierlichen Gebärden und Tönen" (132,
28 f.) weist auf Wagner. In seiner Erstlingsschrift, die ganz unter dem Eindruck
Wagners steht, bewunderte N. an Wagners Musikdrama die Verstärkung des
Ausdrucks durch sämtliche Mittel, insbesondere durch die auch hier wieder
exponierten „Gebärden". Vgl. NK 1/1, 33, 31-34, 4. Darauf geht M 255 in einem
„Gespräch über Musik" parodistisch ein. N. lässt einen der beiden fikti-
ven Gesprächspartner, einen Wagnerianer, ausrufen: „[...] Gebärden sind es.
Wie er winkt! sich hoch aufrichtet! die Arme wirft! Und jetzt scheint ihm der
höchste Augenblick der Spannung gekommen: noch zwei Fanfaren, und er
führt sein Thema vor, prächtig und geputzt, wie klirrend von edlen Steinen. Ist
es eine schöne Frau? Oder ein schönes Pferd?" (206, 21-26)
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften