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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0244
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 138-139 229

nahm die Vorstellung von „Werthgefühlen", die den „Werthschätzungen" zu-
grundeliegen, aus dem Handbuch der Moral von Johann Julius Baumann
(1879). Er hatte es für seine persönliche Bibliothek erworben und, wie die zahl-
reichen Lesespuren zeigen, intensiv durchgearbeitet. Von den „Werthgefühlen"
und ihrem Zusammenhang mit den „Werthschätzungen" handelt Baumann vor
allem auf S. 59-67. Er leitet die „Werthgefühle" von positiven, steigernden Le-
benserfahrungen ab: „Alle Werthgefühle überhaupt sind ein Bewusstsein von
Erhöhung des Lebens, des intellectuellen, ästhetischen, sittlichen" (Baumann
1879, 60); anschließend erörtert er die physiologischen Bedingungen solcher
„Werthgefühle".
Der dezisionistisch-autoritative Charakter der Umwertung, d. h. einer Wert-
setzung gegen die noch geltenden Normen, tritt in der sich hinter pluralischen
Formen („unsere Gegenrechnung"; „wir") verschanzenden Redeweise zu Tage:
„Aber unsere Gegenrechnung ist die, dass wir [!] den Menschen den guten
Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen zurückgeben und den
Werth derselben wiederherstellen, - wir [!] rauben diesen das böse
Gewissen!" (140, 4-8) Aus dieser Aussage erhellt, dass die Umwertung nicht
etwas ganz Neues, vielmehr eine Wiederherstellung', ein ,Zurückgehen' sein
soll; vor allem aber wird nun vollends deutlich, warum N. in einer Reihe frühe-
rer Texte (vgl. insbesondere M 18, M 32, M 16) der Morgenröthe auf archaische
,primitive' Stufen der Menschengeschichte zurückgreift, ja auf eine angebliche
Vorgeschichte rekurriert und dazu ethnologische Studien (z. B. Lubbock, vgl.
NK M 16) über die jetzt noch lebenden „Wilden" heranzieht. Mit dem Projekt
eines ,Zurückgehens' (des Mutes zum Egoismus) beruft sich N. auf vermeintli-
che Urzustände des Menschen, um daraus eine Legitimation für zukünftige
Wertvorstellungen abzuleiten. Damit erscheinen sie allerdings nicht, wie er in
M 104 fordert, als „eigene", sondern als „angenommene", weil in vermeintlich
vorzivilisatorischen Zuständen der Menschheit schon vorhandene „Werte": Das
vorgeblich Neue erscheint als Rückgang auf das (Ur-)Alte.
N. wiederholt hier mit der Hypothese von vorgeschichtlichen Urformen,
die er seinerseits als die authentischen wertet, ein bereits in der Geburt der
Tragödie hervortretendes Vorstellungsmuster. Dort griff er zu der spekulativen
Annahme einer Urtragödie vor allen historisch greifbaren Erscheinungen der
Tragödie, um im Hinblick auf Wagner die These zu vertreten, ursprünglich sei
die Tragödie ganz und gar „Musik" gewesen. Diese Behauptung sollte dazu
dienen, Wagners Musikdrama als die „Wiedergeburt" der Tragödie zu feiern -
so wie hier vorgeschichtliche Urformen einer (antimoralischen) Wiederherstel-
lung' im Feld der Moral dienen sollen. Abgesehen von dieser archaisierenden
Grundkonstruktion ist die Annahme, in primitiven, weitgehend vorzivilisatori-
schen Zuständen sei die ,Moral', wie sie sich in „Handlungen" ausdrücke,
 
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