Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 151 249
gegen die ihrigen aus!" (151, 32-152, 4) Schon Winckelmann hatte mit seiner
berühmten Formulierung, dass die besten griechischen Werke von „edler Ein-
falt und stiller Größe" zeugen (Gedanken über die Nachahmung der griechischen
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, 1755) an ältere Theorien angeschlos-
sen. In der klassizistischen Kunsttheorie war seit dem Attizismus der augustei-
schen Zeit und in der Neuzeit seit Boileau das Ideal der Einfachheit, der „Simp-
lizität", fest verankert. Winckelmanns Formulierung und ihr Echo bei N. lassen
erkennen, dass sich das Ideal der den Griechen zugeschriebenen Einfachheit
(= Einfalt) durchaus mit dem Ideal des - allerdings auf spezifische Weise defi-
nierten - Erhabenen vereinbaren ließ. Denn Winckelmanns „stille Größe" ist
eine in den Grenzen klarer Konturen und seelischer Beherrschtheit (nach stoi-
schem Muster) gehaltene Erhabenheit, im Unterschied zum Überwältigenden
einer ins Ungeheure gehenden Erhabenheit. Ganz entsprechend unterscheidet
N. zwischen der „Massenhaftigkeit", der „grossen Quantität als der Sprache
des Erhabenen", und der Wirkung des „Erhabenen", das die Griechen in
„kleinen Massen" zu erreichen vermochten (151, 30). Unter Berufung auf
die Schrift des Pseudo-Longinus Über das Erhabene (περί ύψους), die N. in
seiner Philologenzeit sogar neu edieren wollte, hatte schon Boileau in seinem
Traite du Sublime (1674) die „simplicite majestueuse" und die „noble simplici-
te" empfohlen.
Wenig plausibel ist die von N. versuchte Exemplifizierung an den architek-
tonischen Zeugnissen griechischer Kultur in „Pästum, Pompeji und Athen"
(151, 28), und dies aus mehreren Gründen. Pompeji kommt als markantes Bei-
spiel griechischer Architektur schon deshalb nicht in Frage, weil dort nur weni-
ge Spuren eines dorischen Tempels aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zu erkennen
sind. Die offiziellen Ausgrabungen der nach dem Vesuv-Ausbruch des Jahres
79 n. Chr. völlig verschütteten Stadt begannen 1748. Zu Tage kam im Laufe der
sich über lange Zeit hinziehenden Freilegungen nicht eine griechische Stadt
mit entsprechender griechischer Architektur, sondern ein Ort, der wegen seiner
attraktiven Lage bei der römischen Mittelschicht beliebt war, nachdem er 80
v. Chr. römische Kolonie geworden war. Es handelt sich um ein Städtchen, das
nicht etwas über die „Griechen" (151, 30) oder das „Griechische" (151. 26) aus-
sagt, vielmehr über den Baustil und die unter der Lava gut erhalten geblie-
benen Lebenszeugnisse der frühkaiserzeitlichen Römer. Sodann ist auch die
generalisierende Berufung auf die drei Tempel von Paestum problematisch,
obwohl sie im Unterschied zur pompejanischen Architektur authentisch grie-
chisch sind und obwohl diese Tempel zu den am besten erhaltenen gehören.
Im griechisch besiedelten Süditalien entstanden sie während der archaischen
Zeit; der erste wurde schon um 540 v. Chr. errichtet, der zweite um 490, der
dritte um 450. Gerade die Tempel von Paestum verraten aufgrund ihrer gedrun-
gegen die ihrigen aus!" (151, 32-152, 4) Schon Winckelmann hatte mit seiner
berühmten Formulierung, dass die besten griechischen Werke von „edler Ein-
falt und stiller Größe" zeugen (Gedanken über die Nachahmung der griechischen
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, 1755) an ältere Theorien angeschlos-
sen. In der klassizistischen Kunsttheorie war seit dem Attizismus der augustei-
schen Zeit und in der Neuzeit seit Boileau das Ideal der Einfachheit, der „Simp-
lizität", fest verankert. Winckelmanns Formulierung und ihr Echo bei N. lassen
erkennen, dass sich das Ideal der den Griechen zugeschriebenen Einfachheit
(= Einfalt) durchaus mit dem Ideal des - allerdings auf spezifische Weise defi-
nierten - Erhabenen vereinbaren ließ. Denn Winckelmanns „stille Größe" ist
eine in den Grenzen klarer Konturen und seelischer Beherrschtheit (nach stoi-
schem Muster) gehaltene Erhabenheit, im Unterschied zum Überwältigenden
einer ins Ungeheure gehenden Erhabenheit. Ganz entsprechend unterscheidet
N. zwischen der „Massenhaftigkeit", der „grossen Quantität als der Sprache
des Erhabenen", und der Wirkung des „Erhabenen", das die Griechen in
„kleinen Massen" zu erreichen vermochten (151, 30). Unter Berufung auf
die Schrift des Pseudo-Longinus Über das Erhabene (περί ύψους), die N. in
seiner Philologenzeit sogar neu edieren wollte, hatte schon Boileau in seinem
Traite du Sublime (1674) die „simplicite majestueuse" und die „noble simplici-
te" empfohlen.
Wenig plausibel ist die von N. versuchte Exemplifizierung an den architek-
tonischen Zeugnissen griechischer Kultur in „Pästum, Pompeji und Athen"
(151, 28), und dies aus mehreren Gründen. Pompeji kommt als markantes Bei-
spiel griechischer Architektur schon deshalb nicht in Frage, weil dort nur weni-
ge Spuren eines dorischen Tempels aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zu erkennen
sind. Die offiziellen Ausgrabungen der nach dem Vesuv-Ausbruch des Jahres
79 n. Chr. völlig verschütteten Stadt begannen 1748. Zu Tage kam im Laufe der
sich über lange Zeit hinziehenden Freilegungen nicht eine griechische Stadt
mit entsprechender griechischer Architektur, sondern ein Ort, der wegen seiner
attraktiven Lage bei der römischen Mittelschicht beliebt war, nachdem er 80
v. Chr. römische Kolonie geworden war. Es handelt sich um ein Städtchen, das
nicht etwas über die „Griechen" (151, 30) oder das „Griechische" (151. 26) aus-
sagt, vielmehr über den Baustil und die unter der Lava gut erhalten geblie-
benen Lebenszeugnisse der frühkaiserzeitlichen Römer. Sodann ist auch die
generalisierende Berufung auf die drei Tempel von Paestum problematisch,
obwohl sie im Unterschied zur pompejanischen Architektur authentisch grie-
chisch sind und obwohl diese Tempel zu den am besten erhaltenen gehören.
Im griechisch besiedelten Süditalien entstanden sie während der archaischen
Zeit; der erste wurde schon um 540 v. Chr. errichtet, der zweite um 490, der
dritte um 450. Gerade die Tempel von Paestum verraten aufgrund ihrer gedrun-