Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 165 269
Nationalsynode von Paris ihr Bekenntnis, die Confessio Gallicana, formulier-
ten. Nach den Konfessionskämpfen, den sogen. Hugenottenkriegen, und
schweren Verfolgungen, die in der Bartholomäusnacht am 23./24. August 1572
in der Ermordung von 3000 Hugenotten gipfelten, wanderten viele aus, beson-
ders fanden sie in Preußen Zuflucht, wo sie der Große Kurfürst (Friedrich Wil-
helm von Brandenburg) aufnahm und wo sie aufgrund ihres Arbeitsethos und
ihrer Fähigkeiten vorbildlich wirkten.
Im Kontext der aufklärerischen, auf eine radikale Kritik des Christentums
und der von ihm ausgehenden „moralischen Vorurtheile" zielenden Morgenrö-
the wirkt die rühmende Hervorhebung gerade des christlichen Frankreich be-
fremdlich - dies umso mehr, als sich N. Gestalten streng religiöser Observanz
zuwendet und noch dazu asketische Tendenzen preist, die er vorher in einer
Reihe von Texten als Symptom eines prinzipiell lebenverneinenden Christen-
tums attackiert hatte. Um diese Widersprüchlichkeit zu überwinden, konstru-
iert er ein dialektisches Schema. Er versucht die „Gegentypen des unchristli-
chen Freigeistes" aufgrund der Herausforderung durch „vollendete Typen der
Christlichkeit" zu interpretieren (166, 20-22). Die historische Sachlage spricht
jedoch gegen eine solche auf „Typen" und „Gegentypen" fixierte Phantasie,
obwohl sich Voltaire mit Pascal und Bossuet auseinandersetzt. Vielmehr hatten
die naturwissenschaftliche und die historische Aufklärung - letztere in der
Form der historischen Bibelkritik - die dogmatischen Fundamente des Chris-
tentums, besonders den Wunderglauben, schon erschüttert und damit ein frei-
geisterisches Denken befördert. Und vor allem: Die Religionskriege, der kirchli-
che Machtmissbrauch und die religiöse Intoleranz, nicht aber religiöse „Gegen-
typen", riefen ,freigeisterische' Reaktionen hervor. Bis ins 18. Jahrhundert
hinein gab es nicht nur Bücherverbrennungen, sondern auch noch Hexenver-
brennungen, die im 16. und 17. Jahrhundert mit päpstlicher Legitimation hun-
derttausende Opfer gefordert hatten; Abweichungen von einer eng dogmatisch
fixierten Orthodoxie zogen schwerste Repressionen bis hin zu Folterungen und
zum Tod auf dem Scheiterhaufen nach sich. Ein prominentes Beispiel ist Voltai-
res Traite de la Tolerance. Er entstand aus Empörung über mehrere exakt nach-
gewiesene Fälle von Verbrechen, die paradigmatisch waren. Sie wurden von
der Kirche angestiftet und von der Justiz der mit der Kirche eng verbundenen
absolutistischen Monarchie an Unschuldigen begangen: an Jean Calas und
dem Chevalier de la Barre, dem man auf der Folter die Beine zerbrach und
dessen Leichnam man ins Feuer warf, weil er Voltaires auf dem Index stehen-
des Dictionnaire philosophique portatif besaß. Ein deutsches Beispiel ist der N.
wohlvertraute Aufklärer Lessing, der sich nicht nur dogmenkritisch (mittels
der von ihm herausgegebenen Reimarus-Fragmente) engagierte, sondern auch
literarisch gegen kirchliche Intoleranz, religiösen Fanatismus und den daraus
Nationalsynode von Paris ihr Bekenntnis, die Confessio Gallicana, formulier-
ten. Nach den Konfessionskämpfen, den sogen. Hugenottenkriegen, und
schweren Verfolgungen, die in der Bartholomäusnacht am 23./24. August 1572
in der Ermordung von 3000 Hugenotten gipfelten, wanderten viele aus, beson-
ders fanden sie in Preußen Zuflucht, wo sie der Große Kurfürst (Friedrich Wil-
helm von Brandenburg) aufnahm und wo sie aufgrund ihres Arbeitsethos und
ihrer Fähigkeiten vorbildlich wirkten.
Im Kontext der aufklärerischen, auf eine radikale Kritik des Christentums
und der von ihm ausgehenden „moralischen Vorurtheile" zielenden Morgenrö-
the wirkt die rühmende Hervorhebung gerade des christlichen Frankreich be-
fremdlich - dies umso mehr, als sich N. Gestalten streng religiöser Observanz
zuwendet und noch dazu asketische Tendenzen preist, die er vorher in einer
Reihe von Texten als Symptom eines prinzipiell lebenverneinenden Christen-
tums attackiert hatte. Um diese Widersprüchlichkeit zu überwinden, konstru-
iert er ein dialektisches Schema. Er versucht die „Gegentypen des unchristli-
chen Freigeistes" aufgrund der Herausforderung durch „vollendete Typen der
Christlichkeit" zu interpretieren (166, 20-22). Die historische Sachlage spricht
jedoch gegen eine solche auf „Typen" und „Gegentypen" fixierte Phantasie,
obwohl sich Voltaire mit Pascal und Bossuet auseinandersetzt. Vielmehr hatten
die naturwissenschaftliche und die historische Aufklärung - letztere in der
Form der historischen Bibelkritik - die dogmatischen Fundamente des Chris-
tentums, besonders den Wunderglauben, schon erschüttert und damit ein frei-
geisterisches Denken befördert. Und vor allem: Die Religionskriege, der kirchli-
che Machtmissbrauch und die religiöse Intoleranz, nicht aber religiöse „Gegen-
typen", riefen ,freigeisterische' Reaktionen hervor. Bis ins 18. Jahrhundert
hinein gab es nicht nur Bücherverbrennungen, sondern auch noch Hexenver-
brennungen, die im 16. und 17. Jahrhundert mit päpstlicher Legitimation hun-
derttausende Opfer gefordert hatten; Abweichungen von einer eng dogmatisch
fixierten Orthodoxie zogen schwerste Repressionen bis hin zu Folterungen und
zum Tod auf dem Scheiterhaufen nach sich. Ein prominentes Beispiel ist Voltai-
res Traite de la Tolerance. Er entstand aus Empörung über mehrere exakt nach-
gewiesene Fälle von Verbrechen, die paradigmatisch waren. Sie wurden von
der Kirche angestiftet und von der Justiz der mit der Kirche eng verbundenen
absolutistischen Monarchie an Unschuldigen begangen: an Jean Calas und
dem Chevalier de la Barre, dem man auf der Folter die Beine zerbrach und
dessen Leichnam man ins Feuer warf, weil er Voltaires auf dem Index stehen-
des Dictionnaire philosophique portatif besaß. Ein deutsches Beispiel ist der N.
wohlvertraute Aufklärer Lessing, der sich nicht nur dogmenkritisch (mittels
der von ihm herausgegebenen Reimarus-Fragmente) engagierte, sondern auch
literarisch gegen kirchliche Intoleranz, religiösen Fanatismus und den daraus