Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0305
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
290 Morgenröthe

205
180, 29 Vom Volke Israel.] In den frühen Basler Jahren, in denen Die Ge-
burt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen entstanden, sind N.s
Äußerungen über die Juden noch entschieden antisemitisch. Vgl. die einschlä-
gigen Briefstellen im Kommentar zur Tragödienschrift (NK 1/1, 68, 34-69, 8).
Auch durch Wagners Antisemitismus, der sein zuerst 1849 erschienenes
Pamphlet Das Judentum in der Musik im Jahr 1869 neu herausgab, sowie durch
Cosima Wagner fühlte er sich in seiner antisemitischen Einstellung bestärkt.
Später rückte er davon ab, wozu die Distanzierung von den Wagners, aber
auch der Ärger über den primitiven Antisemitismus seines Schwagers Bern-
hard Förster beitrugen. Vor allem: Gerade in der ,mittleren' Phase seines Schaf-
fens, in der auch die Morgenröthe entstand, war Paul Ree sein bester Freund,
dem er wesentliche Anregungen (vgl. das Kapitel „Quellen" im Überblickskom-
mentar) verdankte - Ree war jüdischer Herkunft. Der vorliegende Text, der von
einer historischen Analyse der Geschichte der Juden in Europa ausgeht, voll-
zieht die Wendung zur Anerkennung. Sie gilt am Ende besonders den geistigen
Leistungen, nachdem zuvor (182, 18-34) bereits die Möglichkeiten sowohl der
gesellschaftlichen Assimilation wie der Elitenbildung dargestellt wurden. Auch
im nächsten Text (Μ 206) widerruft N. - nunmehr im Hinblick auf das Los der
Arbeiter - seine früheren Wertungen.

206
183, 15 Der unmögliche Stand.] In der Geburt der Tragödie hatte N. nicht
nur für die Beibehaltung der Sklaverei plädiert, sondern auch die vollständige
Versklavung und eine sogar noch härtere Ausbeutung der europäischen Arbei-
ter als Voraussetzung kultureller Elitenbildung gefordert (vgl. die Kommentare
zu GT 11: KSA 1, 78, 8-10; GT 18: KSA 1, 117, 15-25 und KSA 1, 117, 19-21). Ob-
wohl er weiterhin die Sklaverei befürwortete, stellt er hier das Los der Arbeiter
als menschenunwürdig dar. Er denkt aber nicht an soziale Verbesserungen,
sondern empfiehlt den Arbeitern, sie sollten doch einfach auswandern! Und
dies „im grossen Stil" (185, 1). Wenn er ausruft: „Möge sich Europa des vierten
Theiles seiner Bewohner erleichtern! Ihm und ihnen es leichter um's Herz wer-
den!" (185, 4 f.), so wirkt nicht nur die Erinnerung an die großen Auswande-
rungswellen nach, die durch die sozialen Missstände, die dramatisch sich ver-
schärfende Armut und die Hungersnöte besonders in den Dreißiger- und Vier-
ziger Jahren verursacht worden waren. Auch die in der Bildungsschicht
weitverbreitete Furcht vor „einer Umsturz-Partei" (185, 3) ist im Spiele. Mit der
Vorstellung von „Unternehmungen schwärmender Colonisten-Züge" (185, 6 f.)
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften