Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 203-204 307
heit und Trägheit. Den Hintergrund dieser Einschätzung bildet die aristoteli-
sche Lehre, dass das richtige Verhalten in der Vermeidung der Extreme und im
Einhalten des rechten Maßes, der Mitte, liegt. N.s Version „Bei den Kindern der
grossen Genie's bricht der Wahnsinn heraus" (204, 2 f.) ist von der zeitgenössi-
schen topischen Verbindung von Genie und Wahnsinn bestimmt (vgl. hierzu
NK Μ 14); sie geht weit über Aristoteles hinaus, denn dieser spricht nicht von
großen Genies, sondern nur von Männern mit naturhafter Begabung (wie Alki-
biades und Dionysios I.). Im Hinblick auf Kimon, Perikles und Sokrates bietet
Aristoteles überhaupt keine Charakterisierung - N.s Bezeichnung „die grossen
Tugendhaften" ist frei erfunden, wahrscheinlich weil er die Verbindung von
Sokrates und Tugend in Platons Dialogen zugrundelegte. Vor allem aber ver-
folgt er neben der Absicht, ,große Männer' vor der Ehe und damit vor einer zur
Entartung führenden Fortpflanzung zu warnen, noch die weitere Intention, die
„Tugendhaften", d. h. im Kontext der Morgenröthe: die Repräsentanten der
„Moral", in der Perspektive der Degeneration mit Dummheit zu assoziieren.
Der Text des Aristoteles lautet: έξίσταται δέ τά μέν εύφυά γένη εις μανικώτερα
ήθη, οίον οι άπ' Άλκιβιάδου καί οι άπό Διονυσίου τοϋ προτέρου, τά δέ στάσιμα
εις αβελτερίαν καί νωθρότητα, οίον οί άπό Κίμωνος καί Περικλέους καί
Σωκράτους („Einerseits entarten die naturhaft begabten Geschlechter zu mani-
schem Verhalten, wie die Nachkommen von Alkibiades und von Dionysios dem
Älteren; andererseits die unbeweglichen [Geschlechter] zu Dummheit und
Trägheit, wie die Nachkommen des Kimon, Perikles und Sokrates").
247
204, 8 Herkunft des schlechten Temperaments.] Wie schon der Be-
griff „Herkunft" besagt, rückt N. die temperamenthafte Disposition der Men-
schen in eine genealogische Perspektive. Sie betrifft auch sein im Bann der
zeitgenössischen Abstammungs- und Vererbungstheorien stehendes Verständ-
nis der Gefühlssphäre und damit das „Temperament" (vgl. hierzu besonders
M 35), nicht zuletzt die ,Moral'. Daraus entsteht später die Konzeption einer
,Genealogie der Moral'.
248
204, 18 Verstellung als Pflicht.] Schon die traditionelle Moralistik, ins-
besondere diejenige La Rochefoucaulds, richtet ihre Aufmerksamkeit auf die
gesellschaftlich bedingte und insofern notwendige „Verstellung" sowie auf den
Anschein, hinter dem sich ganz anderes verbirgt. N. geht noch weiter, indem
heit und Trägheit. Den Hintergrund dieser Einschätzung bildet die aristoteli-
sche Lehre, dass das richtige Verhalten in der Vermeidung der Extreme und im
Einhalten des rechten Maßes, der Mitte, liegt. N.s Version „Bei den Kindern der
grossen Genie's bricht der Wahnsinn heraus" (204, 2 f.) ist von der zeitgenössi-
schen topischen Verbindung von Genie und Wahnsinn bestimmt (vgl. hierzu
NK Μ 14); sie geht weit über Aristoteles hinaus, denn dieser spricht nicht von
großen Genies, sondern nur von Männern mit naturhafter Begabung (wie Alki-
biades und Dionysios I.). Im Hinblick auf Kimon, Perikles und Sokrates bietet
Aristoteles überhaupt keine Charakterisierung - N.s Bezeichnung „die grossen
Tugendhaften" ist frei erfunden, wahrscheinlich weil er die Verbindung von
Sokrates und Tugend in Platons Dialogen zugrundelegte. Vor allem aber ver-
folgt er neben der Absicht, ,große Männer' vor der Ehe und damit vor einer zur
Entartung führenden Fortpflanzung zu warnen, noch die weitere Intention, die
„Tugendhaften", d. h. im Kontext der Morgenröthe: die Repräsentanten der
„Moral", in der Perspektive der Degeneration mit Dummheit zu assoziieren.
Der Text des Aristoteles lautet: έξίσταται δέ τά μέν εύφυά γένη εις μανικώτερα
ήθη, οίον οι άπ' Άλκιβιάδου καί οι άπό Διονυσίου τοϋ προτέρου, τά δέ στάσιμα
εις αβελτερίαν καί νωθρότητα, οίον οί άπό Κίμωνος καί Περικλέους καί
Σωκράτους („Einerseits entarten die naturhaft begabten Geschlechter zu mani-
schem Verhalten, wie die Nachkommen von Alkibiades und von Dionysios dem
Älteren; andererseits die unbeweglichen [Geschlechter] zu Dummheit und
Trägheit, wie die Nachkommen des Kimon, Perikles und Sokrates").
247
204, 8 Herkunft des schlechten Temperaments.] Wie schon der Be-
griff „Herkunft" besagt, rückt N. die temperamenthafte Disposition der Men-
schen in eine genealogische Perspektive. Sie betrifft auch sein im Bann der
zeitgenössischen Abstammungs- und Vererbungstheorien stehendes Verständ-
nis der Gefühlssphäre und damit das „Temperament" (vgl. hierzu besonders
M 35), nicht zuletzt die ,Moral'. Daraus entsteht später die Konzeption einer
,Genealogie der Moral'.
248
204, 18 Verstellung als Pflicht.] Schon die traditionelle Moralistik, ins-
besondere diejenige La Rochefoucaulds, richtet ihre Aufmerksamkeit auf die
gesellschaftlich bedingte und insofern notwendige „Verstellung" sowie auf den
Anschein, hinter dem sich ganz anderes verbirgt. N. geht noch weiter, indem