Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0323
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
308 Morgenröthe

er die Habitualisierung ursprünglich manipulativ zustandegekommener „Ver-
stellung" und „Heuchelei" bis zu dem Grade verfolgt, wo sie „Natur" wird
(204, 28) und somit nicht mehr unmittelbar auf Falschheit beruht. Mit dieser
Auflösung des Gegensatzes von Verstellung und natürlichem Wesen, von
falsch und wahr, von Schein und Sein suspendiert er auch die einst daraus
resultierende moralische Wertung. Den Hintergrund hierfür bildet die Ablei-
tung von Moral aus Herkommen und Gewöhnung; vgl. Μ 9. Schon Pascal hatte
diesen Schritt getan. Vgl. NK M 192.
249
205, 2 Wer ist den je allein!] Einsamkeit ist in N.s Briefen aus dieser
Zeit - und später noch mehr - ein sowohl erlittenes Schicksal als auch ein
inneres Bedürfnis, das er nicht zuletzt in einer ganzen Reihe von Texten der
Morgenröthe zum Ausdruck bringt.
250
205, 7 Nacht und Musik.] Dieser Text ist ein Beispiel für N.s physiologische
und evolutionsgeschichtliche Deutung geistig-künstlerischer Phänomene: So
wie das Hörorgan sich angeblich in der „Nacht" zur Warnung der „furchtsa-
men" Urmenschen entwickelt habe, ebenso sei die für das Ohr bestimmte Mu-
sik eigentlich eine „Kunst der Nacht und Halbnacht" - ein Verständnis der
Musik, das von Motiven in Wagners Tristan und Isolde grundiert ist. Thomas
Mann satirisierte in seiner Erzählung Tristan gerade die Wirkung der verführe-
rischen Nachttrunkenheit dieser Oper auf dekadente Wagnerianer.
251
205, 15 Stoisch.] Vom Stoiker kann gesagt werden, dass er sich als „Herr-
schenden" sogar in „beengten" Situationen „geniesst", weil er seine Affekte
zu beherrschen gelernt hat. Daraus bezieht er seine Souveränität, die sich als
„Heiterkeit" äußern und bis zum Selbstgenuss reichen kann. N. reflektiert auch
sonst die Tendenz zum Selbstgenuss, der sogar eine Form der - nicht negativ
gewerteten - „Selbstsucht" sein kann. Damit suspendiert N. im Rückgriff auf
die Stoa die Abwertung des Egoismus in der christlichen Moral, welche den
Altruismus, die „Nächstenliebe" fordert. Am markantesten ist in dieser Hin-
sicht seine wiederholte Auseinandersetzung mit Pascals Ausspruch „Le moi est
häissable", vgl. Μ 63 und M 91 sowie die Kommentare.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften