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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0335
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320 Morgenröthe

schaftsformen Ausdruck ihrer „Rassenseele" seien, die physiologisch insbe-
sondere durch die Schädelstruktur der jeweiligen Rasse bedingt sei.
Im Hinblick auf die in der Morgenröthe exponierte Vorstellung von einer
„Reinigung der Rasse", die auf die späteren „Züchtungs"-Forderungen voraus-
weist, gerät N. in die gleichen Spannungen und Widersprüche wie der sog.
Sozialdarwinismus. Dieser geht mitsamt seiner Basisformel vom „survival oft
the fittest" nicht, wie oft behauptet, auf Darwin zurück, sondern auf Herbert
Spencers Werk The Study of Sociology, das 1872-73 in den USA erschien. N.
hatte mehrere von Spencers Werken in seiner persönlichen Bibliothek (vgl.
NPB 565 f.). Im Januar 1880, gerade als er sich der Moralkritik in der Morgenrö-
the zuwandte, kaufte er das thematisch einschlägige Werk The Data of Ethics
von Herbert Spencer in der deutschen Übersetzung: Spencer 1879. Vgl. N.s Brie-
fe an Ernst Schmeitzner vom 22. November 1879 (KSB 5/KGB II/5, Nr. 907) so-
wie vom 28. Dezember 1879 (KSB 5/KGB II/5, Nr. 921). Schon in The Study of
Sociology sieht Spencer die Menschen als von Natur aus ungleich an: Deshalb
sei auch die gesellschaftliche Ungleichheit gerechtfertigt. Außer Acht bleibt
dabei, dass die Gleichheitsforderung in der Erklärung der Menschenrechte sich
nicht primär auf die natürlichen Gegebenheiten, sondern auf die im Rechtssys-
tem der alten Ständeordnung weithin geltende Ungleichheit vor dem Gesetz
bezog, welche den privilegierten Ständen, also dem Adel und dem Klerus, auch
steuerlich und vor Gericht eine vorteilhafte Sonderstellung einräumte. Da die
Natur laut Spencer selbst dafür sorgt, dass die Tauglichsten zum Zuge kom-
men, dürfe in die naturgewollte Entwicklung der Gesellschaft nicht eingegrif-
fen werden. Aus diesem programmatischen ,Non-Interventionismus' resultiert
z. B. die Ablehnung jedweder Sozialpolitik zur Behebung der Missstände in der
frühen Industriegesellschaft. Es handelt sich um einen Versuch, diese natura-
listisch zu rechtfertigen, analog zum Vorgehen Gobineaus, der durch seine Ras-
senlehre versuchte, die alte Stände-Gesellschaft mit dem Adel an der Spitze
naturalistisch zu legitimieren.
Sowohl die Rassenlehre wie die Eugenik - deren Begründer Francis Galton
nahm N. ebenfalls zur Kenntnis - machten aber dem Non-Interventionismus
des klassischen Sozialdarwinismus noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts ein Ende. (Ein Reflex darauf findet sich in einem Nachlass-Notat N.s vom
Jahre 1881: 11[43], KSA 9, 457.) Ihre Vertreter gehen nicht mehr, wie der Sozial-
darwinismus Spencers, von der Natur, sondern von der Zivilisation aus und
gelangen zu dem Ergebnis, dass die zunehmende Zivilisierung die Wirksamkeit
der „natürlichen" Auslese einschränke, ja sogar zum Überleben der minder
Tauglichen führen könne. Deshalb suspendierte man den Non-Interventionis-
mus und das Laissez-faire des Spencerschen Sozialdarwinismus und entwi-
ckelte interventionistische und entsprechend auf steuernde oder sogar auf ge-
 
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