Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 238-240 347
liche, aber doch sinngemäße Wiedergabe der gegen das preußische Zensur-
edikt von 1788 gerichteten Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten
Europas (1793). Unter Denkfreiheit versteht Fichte die Meinungsfreiheit, in der
sich das Denken des Einzelnen öffentlich mitteilen kann. Fichtes Formulierung
lautet: „Fürst, Du hast kein Recht, unsere Denkfreiheit zu unterdrücken [...],
und wenn um dich herum die Welten untergehn und Du mit deinem Volke
unter ihren Trümmern begraben werden solltest" (Fichte 1964, 187; N. hatte
das Fichte-Zitat aus der (etwas ausführlicheren) Darstellung bei Kuno Fischer
1869, 380).
Die freie Umformulierung N.s, in der er von der „Wahrheit" spricht, ist aus
der Erinnerung an die zur Redensart gewordene Sentenz zu verstehen: „fiat
veritas, pereat mundus" („Die Wahrheit muß sein, und wenn auch die Welt
zugrundegeht"). Diese Sentenz grundiert auch den Aufruf Fichtes in den zitier-
ten Worten. Sie sind von revolutionärem Pathos erfüllt zu einer Zeit, in welcher
die Französische Revolution ihren Höhepunkt erreichte. Fichte begeisterte als
Universitätslehrer in Jena die ebenfalls von revolutionären Ideen bewegten
Studenten. Auch Kant vertrat mutig die Meinungsfreiheit und insbesondere die
Freiheit von Lehre und Forschung, als Wilhelm II., der reaktionäre und bigotte
Nachfolger Friedrichs des Großen, der 1786 gestorben war, das innenpolitische
Schlüsselministerium mit Johann Christoph Wöllner besetzt hatte. Dieser erließ
1788 das sog. Wöllnersche Religionsedikt. Zwanzig Jahre vorher (1768) hatte
Friedrich der Große die Nobilitierung Wöllners mit dem Bescheid abgelehnt:
„Der Wöllner ist ein betriegerischer und Intriganter Pfafe, weiter Nichts". 1791
gründete Wöllner eine zentrale Behörde in Berlin, die ,Immediat-Examinations-
Commission', die eine schikanöse Zensur praktizierte und überall „Christus-
leugner", „Jakobiner" und „Demokraten" witterte. Selbst Kant wurde mit ei-
nem Publikationsverbot bedroht. In einem Aide-memoire vom 30. März 1794
verlautbarte Wöllner: „mit Kantens schädlichen schriften mus es auch nicht
lenger fort gehen"; sogar der König drohte Kant mit einem Publikationsverbot.
Was Fichte in seiner von N. zitierten Schrift schrieb, steht in diesem histori-
schen Kontext, und wie Kant wurde auch Fichte gemaßregelt, und noch drasti-
scher: Er verlor in diesem Zusammenhang seine Jenaer Professur. N. war mit
dem historischen Hintergrund nicht vertraut, auf dem allein die Forderung
nach „Denkfreiheit" und „Wahrheit" zu verstehen ist. Daher verfehlt sein Zwei-
fel an einem abstrakten Begriff von „Wahrheit" das historisch sehr konkrete
Anliegen, aufgrund dessen Fichte seinen Aufruf verfasste.
354
240, 9 Muth zum Leiden.] Den biographischen Hintergrund dieser Bemer-
kung bilden N.s Leidenserfahrungen.
liche, aber doch sinngemäße Wiedergabe der gegen das preußische Zensur-
edikt von 1788 gerichteten Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten
Europas (1793). Unter Denkfreiheit versteht Fichte die Meinungsfreiheit, in der
sich das Denken des Einzelnen öffentlich mitteilen kann. Fichtes Formulierung
lautet: „Fürst, Du hast kein Recht, unsere Denkfreiheit zu unterdrücken [...],
und wenn um dich herum die Welten untergehn und Du mit deinem Volke
unter ihren Trümmern begraben werden solltest" (Fichte 1964, 187; N. hatte
das Fichte-Zitat aus der (etwas ausführlicheren) Darstellung bei Kuno Fischer
1869, 380).
Die freie Umformulierung N.s, in der er von der „Wahrheit" spricht, ist aus
der Erinnerung an die zur Redensart gewordene Sentenz zu verstehen: „fiat
veritas, pereat mundus" („Die Wahrheit muß sein, und wenn auch die Welt
zugrundegeht"). Diese Sentenz grundiert auch den Aufruf Fichtes in den zitier-
ten Worten. Sie sind von revolutionärem Pathos erfüllt zu einer Zeit, in welcher
die Französische Revolution ihren Höhepunkt erreichte. Fichte begeisterte als
Universitätslehrer in Jena die ebenfalls von revolutionären Ideen bewegten
Studenten. Auch Kant vertrat mutig die Meinungsfreiheit und insbesondere die
Freiheit von Lehre und Forschung, als Wilhelm II., der reaktionäre und bigotte
Nachfolger Friedrichs des Großen, der 1786 gestorben war, das innenpolitische
Schlüsselministerium mit Johann Christoph Wöllner besetzt hatte. Dieser erließ
1788 das sog. Wöllnersche Religionsedikt. Zwanzig Jahre vorher (1768) hatte
Friedrich der Große die Nobilitierung Wöllners mit dem Bescheid abgelehnt:
„Der Wöllner ist ein betriegerischer und Intriganter Pfafe, weiter Nichts". 1791
gründete Wöllner eine zentrale Behörde in Berlin, die ,Immediat-Examinations-
Commission', die eine schikanöse Zensur praktizierte und überall „Christus-
leugner", „Jakobiner" und „Demokraten" witterte. Selbst Kant wurde mit ei-
nem Publikationsverbot bedroht. In einem Aide-memoire vom 30. März 1794
verlautbarte Wöllner: „mit Kantens schädlichen schriften mus es auch nicht
lenger fort gehen"; sogar der König drohte Kant mit einem Publikationsverbot.
Was Fichte in seiner von N. zitierten Schrift schrieb, steht in diesem histori-
schen Kontext, und wie Kant wurde auch Fichte gemaßregelt, und noch drasti-
scher: Er verlor in diesem Zusammenhang seine Jenaer Professur. N. war mit
dem historischen Hintergrund nicht vertraut, auf dem allein die Forderung
nach „Denkfreiheit" und „Wahrheit" zu verstehen ist. Daher verfehlt sein Zwei-
fel an einem abstrakten Begriff von „Wahrheit" das historisch sehr konkrete
Anliegen, aufgrund dessen Fichte seinen Aufruf verfasste.
354
240, 9 Muth zum Leiden.] Den biographischen Hintergrund dieser Bemer-
kung bilden N.s Leidenserfahrungen.