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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0376
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 253-254 361

408
254, 11 Wo viel Milde noth thut.] Eine Variation zu der in Μ 202 erörter-
ten „Physiologie der Verbrecher" (176, 13).
409
254, 15 Krankheit.] Aufgrund seiner eigenen Krankheitserfahrungen ver-
folgt N. psychotherapeutische Beruhigungsmethoden wie in Μ 54 oder wie hier
Marginalisierungsstrategien, sofern er es nicht vorzieht, sich als Märtyrer zu
heroisieren wie in M 18. In seinen späten Schriften wird Krankheit zum Signum
dekadenten Lebens und dekadenter Kunst. Von dem schon im vorliegenden
Text mit einer Krankheitsdiagnose stigmatisierten Pessimismus Schopenhau-
erscher Provenienz schlägt N. im Fall Wagner die Brücke zu Wagner: „Die
Wohlthat, die Wagner Schopenhauern verdankt, ist unermesslich. Erst der
Philosoph der decadence gab dem Künstler der decadence sich
selbst — ". (KSA 6, 21, 8-10) Unter der Überschrift „Dem Künstler der
decadence" fährt er fort: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht
eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, - er hat die Mu-
sik krank gemacht - " (KSA 6, 21, 15-17).

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254, 19 Die Ängstlichen.] Der Text und besonders das abschließende Wort
„Vernichtung" erhält im Hinblick auf N.s eigene, ausgeprägte Vernichtungs-
phantasien besonderes Interesse - schon in UB II: Vom Nutzen und Nachtheil
der Historie für das Leben steht der Wunsch, zu „richten und vernichten" (KSA
1, 270, 8), in Ecce homo bezeichnet er sich selbst als „Vernichter par excel-
lence" (KSA 6, 366, 33), und in den nachgelassenen Notaten legte er eine Liste
an mit allem, was er „vernichten" will (NL 1884, 25[211], KSA 11, 69).

411
254, 25 Ohne Hass.] Dieser Text enthält, wie manche andere, auch eine
Selbstermahnung. Schon im Frühjahr 1880, als N. den Plan für die Morgenröthe
unter der Überschrift „L'ombra di Venezia" fasste, notierte er den Ent-
wurf einer Vorrede, die mit den Worten beginnt: „Als ich jüngst den Versuch
machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen,
erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Spra-
 
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