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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0393
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378 Morgenröthe

Stellung von transzendenten „Ideen", die er weit über der Wirklichkeit, ja an
einem ganz und gar jenseitigen Ort, an einem τόπος ύπερουράνιος ansiedelt.
Die psychologisierende Interpretation nicht der Ideenlehre, aber der zu ihr füh-
renden Motivation radikalisiert sich im Zusammenhang mit dem polemischen
Anti-Platonismus des Spätwerks zu einem gänzlich negativen Urteil, in dem N.
die Vorstellung des „Flüchtens" noch einmal aufgreift: „Plato ist ein Feigling
vor der Realität, - folglich flüchtet er in's Ideal" (GD, KSA 6, 156, 29 f.). In M
448 entwickelt N. tentativ eine Lösung, die der für jeden Denker notwendigen
Distanzierung von der Wirklichkeit Rechnung trägt, die sich zugleich aber
nicht von der Wirklichkeit lossagt, sondern sie respektiert. Dem nach seinem
Verständnis wahrhaft „Weisen" legt er die Worte in den Mund: ,„ich will die
Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil ich sie
kenne und fürchte'" (271, 16-18). Diese Überlegung steht im nahen Umfeld von
Texten, die alle auf die notwendige „Einsamkeit" des Denkers zielen (Μ 440,
M 443, Μ 469, Μ 473, Μ 478, Μ 485, Μ 491, Μ 499, Μ 524, Μ 531). Aus N.s
Briefen, vor allem aus denjenigen an den Freund Franz Overbeck, geht hervor,
wie sehr er diese Einsamkeit brauchte, aber zugleich an ihr litt.
449
271, 23 Wo sind die Bedürftigen des Geistes?] Die Leitfrage spielt auf
die Bergpredigt an, in der Jesus die ,Armen des Geistes' selig preist (Matthäus
5, 3). N. überträgt dies auf die durch Beunruhigung seelisch Kranken und auf
die durch „Meinungen" Verstörten, die deshalb hilfsbedürftig seien. Als Philo-
soph, der die Menschen von einer falschen, für diese Hilfsbedürftigkeit über-
haupt erst verantwortlichen Moral befreit und der auch die religiösen Voraus-
setzungen dieser Moral suspendiert, sieht er sich in der Rolle des Psychothera-
peuten: als „Armenarzt des Geistes" (272, 10), ja von Ferne sogar in einer
säkularen Nachfolge des Erlösers. Zugleich diagnostiziert er die Übernahme
dieser Rolle auch als eine Form der Selbstbestätigung und als Erfüllung eines
eigenen Bedürfnisses. Bald darauf wird es in Also sprach Zarathustra heißen:
„Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu
viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. / Ich möchte
verschenken und austheilen" (Zarathustras Vorrede 1, KSA 4, 11, 16-19).
In diesen übergreifenden Rahmen bettet N. die stoisch-therapeutischen
Konzepte des Kaisers Marc Aurel ein: Dieser und der nächste Text (Μ 450) sind
so stark von den Selbstermahnungen (τά εις έαυτόν) des Kaisers Marc Aurel
geprägt, dass sie fast wie Exzerpte daraus erscheinen. Marc Aurel, den N. als-
bald in M 450 namentlich nennt, hatte seinerseits Wesentliches aus den später
verlorengegangenen, aber aus den (Nach-)Wirkungen rekonstruierbaren Wer-
 
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