Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 271 379
ken des griechischen Stoikers Poseidonios übernommen. Wie schon die ältere
Stoa formulierte Poseidonios, der neben Panaitios die urbanere, weil nicht so
rigorose mittlere Stoa repräsentierte, seine Lehren und Ermahnungen als präg-
nante Leitsätze. Sie sollten jederzeit aus dem Gedächtnis abrufbar sein und
nach Art von praktischen Maximen orientierende Lebenshilfe gewähren. Diese
Methode übernimmt auch Marc Aurel. Sein zentrales Ziel ist dasjenige der ge-
samten Stoa: die Bewahrung der Gemütsruhe (άταραξία, tranquillitas animi)
und der seelischen Ausgewogenheit (Horazens „aequa mens"). Das Ideal der
άταραξία formuliert Marc Aurel in der eindringlich wiederholten (Selbst-)Er-
mahnung, die er gerne auch als rhetorische Frage gestaltet: „Warum beunru-
higst du dich? (τί ταράσση;) Was ist von diesen Dingen neu? Was bringt dich
aus der Fassung [...] Warum also beunruhigst du dich? (τί ούν ταράσση)"
(9. Buch, Nr. 37; Nr. 39). N.s Version, die er ebenfalls in der für die Stoa typi-
schen therapeutischen Absicht - vgl. die Arzt-Metapher in 272, 10 - im Hin-
blick auf einen seelisch und geistig „Hilfsbedürftigen" formuliert: „damit er
ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele leicht
mache" (272, 2 f.).
Schon mit dem zweiten Satz seines Textes: „Wie ich mich jeder Stimmung
und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken Anderer gegen
die eigenen zu Rechte kommen!" (271, 25-27) folgt N. Marc Aurels Selbstermah-
nung: „Bedenke, daß du gleich frei bleibst, wenn du deine Meinung änderst,
und dem, der sie berichtigt, nachgibst. Denn auch dann vollzieht sich deine
Thätigkeit nach deinem Trieb und Urteil und auch nach deinem Sinn" - Seite
101 in N.s Marc Aurel-Übersetzung (Mark Aurel 1866, 101), die er am Rand mar-
kiert (Μέμνησο, ότι καί τό μετατίθεσθαι καί έπεσθαι τω διορθοϋντι όμοίως
έλεύθερόν έστι. σή γάρ ένέργεια κατά τήν σήν όρμήν καί κρίσιν καί δή καί κατά
νουν τόν σόν περαινομένη; 8. Buch, Nr. 16). Sätze wie „Im Besitz einer Herr-
schaft und zugleich verborgen und entsagend sein!" (272, 26 f.) verraten eine
sehr weitgehende Annäherung an die Rolle und das Ethos des Philosophen auf
dem Kaiserthron, der sich zwar seiner Herrschaft bewusst war, aber in seinen
Selbstermahnungen zugleich den Rückzug ins eigene Innere und eine natürli-
che Bescheidenheit von sich forderte. Dass N. viele der in diesen Text integrier-
ten Maximen mit einem Ausrufe-Zeichen versieht, unterstreicht den exhortati-
ven Duktus des ,an sich selbst' (είς έαυτόν) gerichteten Programms. Am Ende
aber lässt er erkennen, dass er nur Wunschvorstellungen und obendrein einem
ihm letztlich doch fremden Musterbeispiel gefolgt ist: „Das wäre [!] ein Leben!
Das wäre ein Grund, lange zu leben!" (272, 29 f.) Denn derartigen Vorstellungen
stehen seine eigenen Grundanschauungen und seine eigenen Tendenzen zu
sehr entgegen: Während Marc Aurel ein Ethos der Pflicht, des Maßes und der
sittlichen Verantwortung vertritt, schüttelt N. all dies in der Rolle des radikalen
Individualisten und „Immoralisten" von sich ab.
ken des griechischen Stoikers Poseidonios übernommen. Wie schon die ältere
Stoa formulierte Poseidonios, der neben Panaitios die urbanere, weil nicht so
rigorose mittlere Stoa repräsentierte, seine Lehren und Ermahnungen als präg-
nante Leitsätze. Sie sollten jederzeit aus dem Gedächtnis abrufbar sein und
nach Art von praktischen Maximen orientierende Lebenshilfe gewähren. Diese
Methode übernimmt auch Marc Aurel. Sein zentrales Ziel ist dasjenige der ge-
samten Stoa: die Bewahrung der Gemütsruhe (άταραξία, tranquillitas animi)
und der seelischen Ausgewogenheit (Horazens „aequa mens"). Das Ideal der
άταραξία formuliert Marc Aurel in der eindringlich wiederholten (Selbst-)Er-
mahnung, die er gerne auch als rhetorische Frage gestaltet: „Warum beunru-
higst du dich? (τί ταράσση;) Was ist von diesen Dingen neu? Was bringt dich
aus der Fassung [...] Warum also beunruhigst du dich? (τί ούν ταράσση)"
(9. Buch, Nr. 37; Nr. 39). N.s Version, die er ebenfalls in der für die Stoa typi-
schen therapeutischen Absicht - vgl. die Arzt-Metapher in 272, 10 - im Hin-
blick auf einen seelisch und geistig „Hilfsbedürftigen" formuliert: „damit er
ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele leicht
mache" (272, 2 f.).
Schon mit dem zweiten Satz seines Textes: „Wie ich mich jeder Stimmung
und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken Anderer gegen
die eigenen zu Rechte kommen!" (271, 25-27) folgt N. Marc Aurels Selbstermah-
nung: „Bedenke, daß du gleich frei bleibst, wenn du deine Meinung änderst,
und dem, der sie berichtigt, nachgibst. Denn auch dann vollzieht sich deine
Thätigkeit nach deinem Trieb und Urteil und auch nach deinem Sinn" - Seite
101 in N.s Marc Aurel-Übersetzung (Mark Aurel 1866, 101), die er am Rand mar-
kiert (Μέμνησο, ότι καί τό μετατίθεσθαι καί έπεσθαι τω διορθοϋντι όμοίως
έλεύθερόν έστι. σή γάρ ένέργεια κατά τήν σήν όρμήν καί κρίσιν καί δή καί κατά
νουν τόν σόν περαινομένη; 8. Buch, Nr. 16). Sätze wie „Im Besitz einer Herr-
schaft und zugleich verborgen und entsagend sein!" (272, 26 f.) verraten eine
sehr weitgehende Annäherung an die Rolle und das Ethos des Philosophen auf
dem Kaiserthron, der sich zwar seiner Herrschaft bewusst war, aber in seinen
Selbstermahnungen zugleich den Rückzug ins eigene Innere und eine natürli-
che Bescheidenheit von sich forderte. Dass N. viele der in diesen Text integrier-
ten Maximen mit einem Ausrufe-Zeichen versieht, unterstreicht den exhortati-
ven Duktus des ,an sich selbst' (είς έαυτόν) gerichteten Programms. Am Ende
aber lässt er erkennen, dass er nur Wunschvorstellungen und obendrein einem
ihm letztlich doch fremden Musterbeispiel gefolgt ist: „Das wäre [!] ein Leben!
Das wäre ein Grund, lange zu leben!" (272, 29 f.) Denn derartigen Vorstellungen
stehen seine eigenen Grundanschauungen und seine eigenen Tendenzen zu
sehr entgegen: Während Marc Aurel ein Ethos der Pflicht, des Maßes und der
sittlichen Verantwortung vertritt, schüttelt N. all dies in der Rolle des radikalen
Individualisten und „Immoralisten" von sich ab.